Autor: TempleGirl

 

Prolog

Peter stand in der Wohnung seines Vaters und sah sich um. Er hatte sich vorgenommen, endlich ein wenig Ordnung zu machen und Caines Pflanzenvorräte durch zu sehen, ob sie noch alle in Ordnung waren. Sein Vater würde es ihm nie verzeihen, wenn er die Kräuter verderben ließe, die Caine so mühevoll in jahrelanger Arbeit zusammen getragen hatte. Peter lächelte bei der Erinnerung: Bei Paps gab es wirklich nichts, wogegen nicht ein Kraut gewachsen war.
Wo magst du jetzt sein, Paps ? Ich hoffe, es geht dir gut.

Peter sah in die vielen Kräutertöpfe und -gläser, roch hier und da oder zerrieb etwas zwischen den Fingern. Verschiedenartige Düfte stiegen auf, die ihn mit der Zeit ganz betäubten. Bei dem ein oder anderen erwachten Kindheitserinnerungen, etwa an den bitteren Fiebertee oder einen herben Erkältungstrunk. Oder an den Tee, den sie im Tempel oft getrunken hatten. Peter hielt einen Moment nachdenklich inne, dann ging er durchs Zimmer und öffnete das Fenster, um die Düfte zu vertreiben. Mittlerweile vermischten sie sich zu einem eher unangenehmen Geruch, der begann, ihm Kopfschmerzen zu bereiten. Auf der Straße unten herrschte ein buntes Treiben, im Gegensatz zu der fast drückenden Stille hier oben. Unwillkürlich hielt Peter in der Menge nach dem alten Mann mit dem braunen Hut und der braunen Jacke Ausschau, gekleidet wie ein chinesischer Bauer, mit silbergrauem Haar, das ihm auf die Schultern fiel. Das Bild war so deutlich, dass er ihn beinah wirklich zu sehen glaubte. Peter schüttelte den Kopf, um es zu vertreiben und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Von Kräutern hatte er fürs erste genug, nun ging er zu dem kleinen Regal mit den Büchern. Caine hatte nur wenige Bücher besessen, denn Besitz bedeutete einem Shaolin nichts. Eines davon war ein altmodisches, in Leder gebundenes Buch mit unbedruckten Seiten. Hier hatte Caine Rezepte für Kräutermischungen notiert. Eigentlich war es Lo Sis Buch, die ersten Seiten waren mit dessen Schrift bedeckt. Doch Lo Si fiel das Schreiben immer schwerer, so dass Caine diese Aufgabe für ihn übernommen hatte. Peter nahm das Buch heraus und schlug es auf. Dabei fiel etwas auf den Boden. Peter stieß einen überraschten Laut aus und bückte sich danach. Es war ein kleiner Lederbeutel mit etwas Hartem darin, etwas Rundem und Glattem. Er öffnete den Beutel und ließ den Gegenstand auf seine Hand fallen. Es war ein geschliffener, dunkelgrüner Stein von der Größe einer großen Glasmurmel und auch fast genau so rund. Er schimmerte matt und fühlte sich warm in Peters Hand an. Die Wärme kroch von seinen Fingern über seinen Arm bis in sein Herz und verursachte ihm eine Art Glücksgefühl, wie in den seltenen Momenten wirklicher Nähe mit seinem Vater. Auch hatte er plötzlich Gewissheit, dass es Caine gut ging, wo immer er war. Peter versank ganz in dem Anblick des Steins und gab sich dem wohltuenden Gefühl hin, das er ihm bereitete. Fast wurde er schläfrig, da riss ihn ein anderer Eindruck zurück. Im Inneren des Steins blitzte es kurz auf und Peter glaubte einen Moment lang, ein vertrautes Augenpaar zu erkennen. Doch als er näher hinsah, konnte er wieder nur das tiefe Grün des Steins sehen. Peter seufzte, schloss die Hand fest um den Stein und steckte ihn schließlich zurück in den Beutel. Diesen barg er in der Innentasche seiner Jacke.

Nun wandte er sich wieder dem Buch zu. Er versuchte zu ergründen, zwischen welchen Seiten der Beutel gelegen hatte. Auf der letzten Seite hing noch ein Stück des Lederbandes, mit dem der kleine Beutel verschlossen war. Es war mit der Zeit wohl brüchig geworden und hatte sich zwischen der letzten Seite und dem Buchdeckel verfangen, so dass beim Herausfallen ein Stück abgerissen war. Die Seite war mit Caines kleiner, schwungvoller Schrift bedeckt. Peter erfuhr, dass der Stein ein Geschenk eines anderen wandernden Priesters an Caine gewesen war. Sie waren einander während Caines langer Suche begegnet und der Wanderer hatte dessen Verzweiflung bemerkt, obwohl Caine seine Gefühle beherrschte. Caine hatte die Begegnung auf dieser letzten Seite beschrieben:

'Ich sehe tiefen Schmerz in deinen Augen, Shaolin. Du bist auf einer verzweifelten, beinahe aussichtslosen Suche. In deinem Herzen dagegen spüre ich eine tiefe Liebe, wie nur ein Vater sie empfinden kann. Nimm diesen Stein, er wird deine widerstreitenden Gefühle in Einklang bringen und dir bei deiner Suche helfen, Kwai Chang Caine." Das waren die Worte, die der Wanderer zu mir sprach. Er sah in mein Herz und in meine Seele und gab mir diesen Stein, den er Conianctus nannte. Er sagte auch, der Conianctus führe zusammen, was ungewollt getrennt sei. Auch könne er das Band zwischen zwei Menschen stärken, wenn der eine ihn dem anderen zum Geschenk mache. Erst verstand ich nicht recht, was die Botschaft für meine Suche bedeuten sollte, doch als ich bald darauf Peter fand, begriff ich. Er wird den Stein zur rechten Zeit finden, dort, wo ich ihn für ihn aufbewahre und er wird mein Geschenk an ihn sein.'

Hier endeten Caines Aufzeichnungen. Peter schluckte trocken. Warum hatte Caine dieses Erlebnis hier notiert und nicht in dem Tagebuch, das er ihm schon vor einiger Zeit anvertraut hatte? In jedem Fall musste dieses Erlebnis für ihn besondere Bedeutung haben, und sein Vater wollte scheinbar, dass Peter die Aufzeichnung erst fand, wenn er nicht mehr bei ihm war. Als Caine noch hier war, hatte Peter sich für das Buch nicht interessiert, doch nun, als eine Art Vermächtnis, hatte es für ihn an Bedeutung gewonnen. Peter zog die Nase hoch und wischte sich beinahe ärgerlich über die Augen. Er klappte das Buch vorsichtig zu und stellte es behutsam an seinen Platz zurück.

"Oh, Paps, du fehlst mir so sehr," flüsterte er, bedachte den Buchrücken noch einmal mit einem halb wehmütigen, halb amüsierten Blick und beschloss, für heute die Wohnung zu verlassen. Als die Tür hinter ihm zu klappte, blähte ein Windstoß die Gardinen und mit dem Wind schien eine Stimme durch das Zimmer zu wehen:

"Du fehlst mir auch, mein Sohn."

 

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