Teil 5
Autor: TempleGirl

 

Eine unruhige Nacht

Peter ließ sich seufzend auf sein Bett fallen. Pierre schlief schon auf dem Sofa, die aufregenden Geschehnisse des Tages hatten den Jungen erschöpft. Körperlich fühlte auch Peter sich zerschlagen und müde, aber in seinem Kopf kreisten die Gedanken unerbittlich. Er sah das bleiche Gesicht seines Vaters vor sich, hörte Lo Sis Worte in seinem Kopf hämmern und die Ban Dai schienen mit ihren eiskalten Händen nach ihm zu greifen. Nach einer Weile fiel er dennoch in einen unruhigen Schlaf.

Er hastete einen dunklen Gang entlang. Irgendwo in diesem großen, unheimlichen Haus musste sich sein Vater befinden. Er riss alle Türen auf, an denen er vorbei kam, doch hinter jeder gähnte undurchdringliche Schwärze, manchmal erhaschte er einen Blick auf geisterhafte Erscheinungen. Leuchtende Augenpaare starrten ihn an, oder es flatterte etwas an ihm vorüber. Mehrmals duckte er sich und hob schützend die Arme vor das Gesicht. Am Ende des Ganges erahnte er ein fahles Licht. Als er näher kam, sah er eine riesige Liege. Sein Vater lag reglos darauf und auf seinem Bauch saß so etwas wie ein Riesenkrake, der seine Tentakel um Caines Arme und Beine geschlungen hatte. Der Krake wandte den Kopf und sah Peter an. Auf seinem Gesicht erschien ein teuflisches Grinsen, das Peter auf erschreckende Weise bekannt vorkam und in seinen Augen blitzte es gefährlich. Ganz langsam und genussvoll legte der Krake jetzt einen Tentakel um Caines Hals und schnürte ihm damit langsam die Luft ab. Caine riss die Augen auf, wandte den Kopf und streckte zitternd eine Hand nach seinem Sohn aus. "Peter…" röchelte er. "Hilf mir!" "Paps!" schrie Peter in Panik und stürzte sich auf den Kraken. Doch dieser reagierte schnell und hatte, ehe er sich versah, einen Tentakel um Peters Hals geschlungen und ihn hoch gehoben. Peter versuchte mit beiden Händen, den Tentakel zu lösen, zappelte und wand sich in Panik und schrie, so laut er konnte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Keuchend und schweißgebadet fuhr er aus dem Schlaf auf und sah vor sich die schreckgeweiteten Augen des Jungen. Pierre stand an seinem Bett und hatte scheinbar erfolglos versucht, ihn zu wecken.

"Monsieur Peter, was ist mit dir?" fragte Pierre ängstlich. "Du hast im Schlaf geschrieen und um dich geschlagen, ich habe richtig angst bekommen!"

Peter zwang sich, ruhig zu atmen. "Schon gut, Pierre, es ist alles in Ordnung, ich hatte einen Alptraum," erklärte er und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

"Willst du ihn mir erzählen?" bot Pierre an. "Wenn ich schlecht geträumt habe, dann habe ich es früher immer meiner Maman erzählt und hinterher war es gar nicht mehr so schlimm."

"Das ist sehr lieb von dir, aber ich glaube, ich möchte ihn dir lieber nicht erzählen. Sonst können wir beide nicht mehr schlafen," erwiderte Peter matt.

Pierre dachte einen Moment nach und lief dann auf einmal ins Bad. Kurz darauf kam er mit einem Glas Wasser zurück. "Hier, trink, meine Maman hat das bei mir auch immer so gemacht," forderte er seinen großen Freund auf.

Peter lächelte ihn an und trank dankbar.

Pierre war bald wieder eingeschlafen, aber Peter lag wach und dachte nach. Er dachte darüber nach, dass er ganz allein hier her gekommen war und jetzt hatte er drei Freunde, die ihm zur Seite standen. Sogar vier, wenn Chin Ling morgen wirklich kommen sollte.

Kermit hatte nicht gezögert, ihm zu folgen, obwohl ihm der ganze "Shaolin-Kram", wie er es nannte, überhaupt nicht lag. Ebenfalls würde er ihm ohne Zögern ins Bardo folgen. Wie konnte er ihm das jemals vergelten? Er war sich nicht sicher, ob er seinem treuen Freund umgekehrt auch bedingungslos überall hin folgen würde.

Lo Si war ihm eine große Hilfe. Auch er hatte nicht gezögert, zu kommen, als er spürte, dass Kwai Chang Caine in Not war. Und er erwies sich in dieser Mission als nahezu unentbehrlicher Mentor für Peter. Obwohl er jetzt Priester war, wusste Peter doch noch sehr wenig über all die Dinge in der Welt der Shaolin. Ohne Lo Si hätten sie nicht so schnell herausgefunden, was mit seinem Vater los war und ihre Hilfe wäre sicher zu spät gekommen.

Pierre war ein lieber und tapferer Junge. Er verehrte Caine und mittlerweile wohl auch Peter und seine Freunde. Dieses Kind hatte so viel Schreckliches erlebt und war dennoch so unverdorben, so aufrichtig und mitfühlend. Viele andere Kinderseelen wären an dem zerbrochen, was Pierre erlebt hatte. Er war ein ganz besonderer Junge und er würde sein Versprechen halten, Caine zu helfen.

Peter stütze sich auf einen Arm und sah versonnen zu der Couch hinüber, auf der Pierre schlief. Er sah so friedlich und unschuldig aus und Peter lächelte bei seinem Anblick.
Und Chin Ling… Peter versuchte, sich zu erinnern. Chin Ling war ein sehr unscheinbarer Mönch gewesen, der nie jemanden nahe an sich heranließ. Er war ein stiller Beobachter. Stille Wasser sind tief…

Peter fühlte sich etwas getröstet. Sie waren eine Gruppe von Freunden, wie man es wohl selten fand. Ihre Waffen waren ihr Zusammenhalt und ihre gemeinsame und doch unterschiedliche Liebe für Caine. Die Liebe eines Sohnes, die eines Lehrers und nicht zuletzt die eines Schülers, kam es ihm in den Sinn. Das klingt fast wie ein Gedicht, dachte er und musste sich ein albernes Kichern verkneifen. Und Kermit? Er war wie der treue Vasall eines Königs. Kermit als Ritter … mit dieser Vorstellung fand Peter endlich zur Ruhe und schlief wieder ein.

***

Beim Frühstück nahm er den Conianctus aus der Tasche, er hatte ihn in der Aufregung der letzten Tage beinahe vergessen. Der Stein war eisblau und so kalt, dass er sich beinahe in das Fleisch seiner Hand brannte.

 

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