Peter stellte den starken Motor des Stealth ab, sprang aus dem Wagen, schloss ihn ab und ging mit langen Schritten die kurze Einfahrt hoch. Er klingelte zwei Mal kurz hintereinander und trat von einem Fuß auf den anderen, bis schließlich aufgemacht wurde. "Hallo mein Lieber, ich dachte schon, du kommst nicht mehr", wurde er begrüßt. Ein strahlendes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er seine Mutter in die Arme schloss und sie fest umarmte. "Hallo, Mom. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber mein Vater brauchte dringend noch ein paar Kräuter, die ich ihm besorgen musste", antwortete er, ein Hauch Bedauern lag in seiner Stimme. "Was soll's, nun bist du ja hier. Komm rein, ich habe dir extra dein Essen warm gehalten." Peter legte den Arm um seine Mutter, gemeinsam machten sie sich in Richtung Küche auf. Er hob schnuppernd die Nase in die Luft. "Mhhh, das riecht lecker. Was gibt es denn schönes?" Annie lachte leise. "Das was es immer gibt, wenn du dich zu einem Besuch durchringen kannst. Dein Lieblingsgericht, Schmorfleisch mit Pilzen und Nudeln." Ein kleiner Stich durchfuhr den jungen Shaolin. Auch wenn sie es wohl nicht so meinte, hörte er doch den Unterton von Enttäuschung aus ihrer Stimme heraus. Und sie hatte Recht, er kam wirklich sehr selten hier vorbei. Speziell nachdem Kelly nun Aufgrund ihres Studiums auch beinahe den ganzen Tag unterwegs war. Seine Mutter musste sich einsam vorkommen in dem großen Haus. Vor nicht allzu langer Zeit, auch wenn er damit einige Jahre meinte, war dieses Domizil mit Leben angefüllt gewesen. Annie, Paul, Carolyn, Kelly und er selbst hatten hier gewohnt. Dann zogen sie nach und nach aus. Zuerst Carolyn und dann er. Zu allem Überfluss verschwand Paul dann auch noch nun bald drei Jahre zuvor, um seine Dämonen zu jagen und Annie blieb mit Kelly alleine zurück. Peter wusste zwar, dass Annie sehr sporadisch Nachricht über ihren Mann erhielt – ihn sogar ein Mal kurz gesehen hatte -, so dass sie wenigstens wusste, er lebte noch, allerdings ersetzte das seine Nähe natürlich nicht. Peter hatte dabei Kermit in Verdacht, doch dieser hatte niemals heraus gelassen, ob er tatsächlich der Nachrichtenüberbringer war oder nicht. Abgesehen davon änderte das alles nichts an der Tatsache, dass Annie ihren Mann schrecklich vermisste. Schuldbeladen schwor sich Peter, öfter bei seiner Mutter vorbei zu sehen. Er gab seiner Stimme einen gewollt fröhlichen Klang: "Das klingt herrlich, Mom. So wie du und Jody mich mit Essen verwöhnt, werde ich wohl in ein paar Monaten rund wie eine Tonne sein." "Du warst schon immer ein Fass ohne Boden, mein Lieber. Die Gefahr, dass du an Gewicht zulegst ist bei dir wohl nicht gegeben, du warst und bleibst ein guter Futterverwerter." Ihre Hand glitt von seiner Schulter zu seiner Taille hinab. "Im Gegenteil, du bist noch immer so hager. Ein paar Kilos mehr auf den Rippen würden dir nun wirklich nicht schaden." Peter verzog unwirsch das Gesicht. An die zwei Wochen im Krankenhaus, die er wegen seiner eigenen Dummheit - er hatte nach einer Gerölllawine und Hochwasser in den Bergen eine Schnur vom Geröll holen wollen und sich damit in Lebensgefahr gebracht, als sich diese um seinen Körper wickelte und ein abstürzender Baum ihn unter Wasser zog - dort verbringen musste, wollte er jetzt nicht denken. Da er das fade Essen im Hospital über alles hasste, aß er dort kaum etwas und hatte demzufolge einiges mit der Krankenhauskost abgenommen. Da halfen auch all die Köstlichkeiten, die ihm seine Freunde heimlich zugesteckt hatten, nichts. Eingepfercht in einem Bett hatte er nun mal nie Hunger. "Du brauchst gar nicht so das Gesicht verziehen. Die Wahrheit kann man immer sagen", durchbrach Annies Stimme seine Gedanken. Sofort glätte sich Peter Miene. Wie seine blinde Mutter es immer schaffte, die Stimmung ihrer Kinder so genau einschätzen zu können, war und blieb ihm ein Rätsel. Wie hatte Caine es mal so passend ausgedrückt? Er sagte: "Annie sieht blind mehr, als andere mit ihren Augen." Und das stimmte. "Uhm, warum setzt du dich nicht schon, Mom und ich kümmere mich um den Rest?", lenkte er schnell ab. "Du hast doch sicher mit dem Essen auf mich gewartet, oder?" Annie gab einen kleinen Laut von sich, den Peter nicht einordnen konnte. Ihre Hand glitt von seiner Taille und sie wandte sich dem Herd zu. "Kommt nicht in Frage, Schatz. Du deckst den Tisch, während ich mich um den essbaren Teil kümmere." "Okay, Mom." In stiller Eintracht machten sich die Beiden ans Werk. Kurze Zeit später saßen sie am runden Küchentisch und ließen sich das Essen schmecken. Dabei unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten. Erst als sie die Mahlzeit beendet hatten, alles aufgeräumt und gespült war und der dampfende Kaffe im Wohnzimmer auf dem Tisch stand, wandten sie sich wichtigeren Dingen zu. "Wie geht es dir und Jody?", erkundigte sich Annie. "Es geht uns supergut. Wir beide sind übereingekommen, dass wir es langsam angehen wollen und ich muss sagen, ich genieße die Zeit unwahrscheinlich. Das alles ist irgendwie vollkommen anders wie bei all den anderen Frauen, die ich zuvor kannte. Heute kann ich nicht mehr verstehen, warum ich mit Jody nicht schon seit Jahren zusammen bin.", erzählte er strahlend. Annie lachte herzlich. "Es freut mich so für euch, dass ihr euch endlich gefunden habt." Sie machte eine kurze Pause. "Weißt du, ich habe mich schon seit langem gefragt, ob ich dir nicht mit dem Nudelholz Verstand einbläuen sollte. Alle um euch herum haben gesehen, dass ihr starke Gefühle füreinander habt. Aber Peter Caine, der Shaolin-Cop und jetziger Shaolin Priester, hat mal wieder den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen." "Moooom", zog Peter unangenehm berührt das Wort lang. Er konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft er in seinem Umfeld schon dasselbe gehört hatte, nachdem es die Runde machte, dass er und Jody ein Paar waren. "Was ist?", erkundigte sie sich unschuldig. "Kann es sein, dass du das vielleicht schon öfter gehört hast?" Peter trank einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Manchmal war es ihm direkt unheimlich, wie gut Annie ihn einschätzen konnte. Wüsste er es nicht besser, würde er behaupten, sie könne Gedanken lesen. "Ich kann Vergangenes nun mal nicht ändern, auch wenn ich es gerne täte. Nun hat es jedenfalls geklappt und das ist das Wichtigste, oder?", entgegnete er. Annie schmunzelte. "Zum Glück für dich. Jody ist eine tolle Frau und steht zudem mit beiden Beinen auf der Erde, was man bei einigen deiner früheren Bekanntschaften nicht gerade behaupten kann." Verlegen fingerte Peter an seinem stahlblauen Hemd herum. "Das konnte ich vorher auch nicht wissen", murmelte er leise. Annie winkte ab. "Lassen wir das Thema einfach so stehen. Wie geht es Caine und Cara und Kermit?" Sich wieder auf sicherem Terrain fühlend, sprudelte Peter hervor: "Paps geht es gut. Er hat nur ziemlich viel zu tun, denn es grassiert ein Magen-Darm Virus. Zudem gibt es drei Risikoschwangerschaften in der Gemeinde, nach denen er täglich schauen muss und außerdem unterrichtet er gerade im Krankenhaus ein paar Ärzte in Kräuter- und fernöstlicher Heilkunde. Doktor Sabourin hat das eingefädelt und der Andrang ist, entgegen jeder Annahme, riesig. Es nehmen schon vierzehn Ärzte an den Seminaren teil. Da Lo Si noch immer nicht von seiner Reise zurückgekehrt ist, bleibt beinahe alles an ihm hängen. Ich versuche zwar, ihm so gut es geht zu Helfen, aber ich bin nun mal kein Apotheker. Ich habe dafür den gesamten Unterricht in Kung Fu übernommen, so dass er da wenigstens entlastet ist." Schon während er redete, machten sich wieder Schuldgefühle in ihm breit. Sein Vater schuftete im Moment wirklich wie ein Tier, auch wenn ihm das nichts auszumachen schien. Im Gegenteil, selten war ihm Caine so zufrieden und energiegeladen vorgekommen. Menschen helfen, das gefiel seinem Vater am Besten, da blühte er richtig auf. Doch gerade das zeigte Peter seine eigenen Unzulänglichkeiten auf. So sehr er sich bemühte, mit den Kräutern stand er auf Kriegsfuß. Obwohl er mittlerweile schon gute und helfende Kräutertees und sogar einfache Salben für die kleinen Zipperlein mixen konnte, kam es doch immer wieder vor, dass er das ein oder andere Kraut verwechselte und so kontraproduktiv arbeitete. Ohne seinen Vater wäre er aufgeschmissen als Shaolin-Apotheker und das war dem jungen Mann nur allzu sehr bewusst. Er zwang sich dazu, seine Gedanken auf ein erfreulicheres Thema zu lenken und fuhr fort: "Von Kermit und Cara weiß ich im Moment nicht viel. Die letzte Zeit hatten wir kaum Gelegenheit, uns zu unterhalten, denn die Griffins waren damit beschäftigt, ihr neues Haus einzurichten und umzuziehen. Natürlich habe ich ihnen geholfen, aber da konzentriert man sich auf die Arbeit und später ist man dann zu müde, um sich zu unterhalten. Nun ja, und jetzt befinden sie sich auf ihrer Hochzeitsreise." Da er nicht schon wieder auf trübe Gedanken kommen wollte, denn er vermisste die beiden jetzt schon sehr, obwohl sie gerade mal zwei Tage weg waren, brabbelte er schnell weiter: "Annie, du solltest ihr neues Haus mal sehen. Es ist wunderschön, liegt inmitten eines ruhigen Wohngebietes und hat einen riesigen Garten. Und der Wintergarten erst, der ist ein wahrer Traum. Sie müssen ihn nur noch vollends einrichten." "Ich weiß", unterbrach Annie Peters Redefluss. "Ich war ein paar Tage vor ihrer Abreise bei ihnen zu Besuch." Peters Kinnlade klappte auf und wieder zu. "Du
warst dort?", erkundigte er sich verblüfft. Der junge Shaolin kam sich ziemlich dumm vor. Irgendwie hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet, ob oder wie oft seine Schwester des Herzens und sein bester Freund hier vorbei schauten. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass Cara wirklich schon das ein oder andere Mal erzählte, sie hätten Annie besucht, doch irgendwie hatte er das nie so richtig registriert. Wahrscheinlich hielten ihn seine eigenen Reuegefühle davon ab, weil er seine Mutter nicht so oft besuchte, wie er tun sollte. "…ihre Blumen hier, um die ich mich kümmere, bis die beiden aus den Flitterwochen kommen", bekam er den letzten Rest des Satzes noch mit. Er wollte sich nichts anmerken lassen und erwiderte: "Ah deshalb. Ich habe mich schon gefragt, warum dein Urwald", er deutete zur Fensterbank, "seit meinem letzten Besuch so angewachsen ist." "Der lichtet sich auch wieder, keine Sorge." Annie tastete nach Peters Hand und drückte sie. "Du vermisst die beiden schon, oder irre ich mich?" Peter seufzte tief auf. Seiner Mutter konnte er einfach nichts vormachen. "Ja, das tue ich. Irgendwie ist es plötzlich so ruhig geworden ohne Caras Lachen oder Kermits Brummeln." Er wischte eine winziges Staubkörnchen von seinem Ärmel. "Und?", hakte Annie nach, die seine Hinauszögerungstaktik nur allzu gut kannte. Diesmal strich sich der junge Shaolin durch die Haare, bevor er antwortete. "Und ich ertappe mich ständig dabei, dass ich mir Sorgen um die beiden mache. Wir haben so viel durchgestanden und erlebt in den letzten Monaten, dass ich mich einfach nicht von dem Gedanken lösen kann, es könnte Kermit oder Cara wieder etwas passieren. Nur diesmal bin ich wirklich zu weit weg, um eingreifen zu können." "Meinst du nicht, die beiden sind alt genug, um selbst auf sich aufpassen zu können?", hielt Annie dagegen. Ungeduldig schlug Peter die Beine übereinander, nur um sich gleich darauf wieder kerzengerade hinzusetzen. "Natürlich können sie auf sich selbst acht geben. So meinte ich das auch nicht. Aber was ist, wenn sie wieder den Sing Wah begegnen, oder jemand aus Kermits Vergangenheit auftaucht? Oder sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort sind?" Annie konnte nicht anders, sie lachte los, was ihr ein ärgerliches Schnaubens seitens ihres Pflegesohnes einbrachte. "Peter, mein Guter", sie lachte noch stärker. "Hast du dir eben in den letzten Minuten mal selbst zugehört?" Der Angesprochene schüttelte nur mit dem Kopf, er konnte seiner Pflegemutter gerade so gar nicht folgen. Als hätte sie seine Bewegung wahr genommen, fuhr sie fort: "Ist dir gerade wirklich nicht bewusst, dass du dich wie ein überängstlicher Elternteil anhörst? Kermit wäre sicher nicht glücklich darüber, wenn er wüsste, dass du ihn als Kind ansiehst." "Hey, das tue ich doch gar nicht!", rief Peter empört aus. Annies Augenbraue hob sich in die Höhe. "Wirklich nicht?" In leicht übertriebener Manier wiederholte sie Peters Aussagen und betonte die Worte, wie es nur ein Elternteil zustande brachte. Sie endete mit: "Erinnert dich das an etwas?" Peter schlug sich vor die Stirn. Nun begann er ebenfalls zu grinsen. "Das hörte sich gerade genauso an wie das, was du und Paul mir - oder Kelly oder Carolyn - immer mit auf den Weg gegeben habt, wenn ich als Teenager unterwegs sein wollte." "Eben", machte Annie ihren Punkt. Der junge Shaolin brach in lautes Lachen aus. "Ach herrje, von der Seite habe ich es wirklich noch nicht betrachtet. Lass das bloß nicht Kermit oder Cara hören, die zerreißen mich sonst in der Luft. Ich habe wohl mal wieder ziemlich überreagiert, oder?" Glucksend hob Annie die Hand zum Schwur. "Ich verspreche, dieses Gespräch bleibt unter uns beiden. Und ja, du bist mal wieder über das Zielt hinaus geschossen, mein Liebling." Der junge Mann wurde wieder ernst. Sein Brustkorb hob sich in einem tiefen Atemzug und er rührte eine ganze Weile in seiner Kaffeetasse, bevor er sie auf dem Tisch abstellte, ohne einen Schluck davon getrunken zu haben. "Da bin ich nun Shaolin und sollte mich im Griff haben und dennoch passiert mir so etwas immer wieder", meinte er mehr zu sich selbst. Annie tastete erneut nach seiner Hand, die sie dann ergriff und drückte. "Liebling, es ist absolut nichts dagegen einzuwenden, wenn du dir Sorgen um deine Liebsten machst. Doch, wie Caine dich das sicher gelehrt hat, muss alles im Gleichgewicht bleiben. Das Yin und das Yang, es soll sich gegenseitig aufwiegen und keine Seite die andere überlappen. Darin besteht die Kunst und das bekommt man nur mit Übung in den Griff. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Im Gegenteil, es ehrt dich sehr, wenn du dir um andere Gedanken machst. Das lag schon immer in deiner Natur." Peter drückte seiner Mutter einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken, bevor er den Griff sanft löste. "Ich frage mich, wie du es früher immer geschafft hast, so ruhig zu bleiben, wenn wir unterwegs waren." "Ich, ruhig?", versetzte Annie beinahe entsetzt. "Junge, ich war jedes Mal ein Nervenbündel und stand kurz vor dem Infarkt, wenn ich wusste, ihr geht zu Veranstaltungen auf denen viel passieren kann wie z.B. Rockkonzerte oder diese Horror Shows, die ihr alle drei so geliebt hat." "Du?", rief Peter überrascht aus und schüttelte verwirrt den Kopf. "Du warst aufgeregt? Nein, Mom, das kann nicht sein. Du warst immer cool und überlegt." Diesmal seufzte Annie auf. "Schön wäre es gewesen, Peter. Ich konnte wohl nur gut meine Gefühle vor euch verstecken, denn ich wollte nicht, dass ihr nur wegen meiner Bedenken zu Hause bleibt. Schade, dass Paul nicht hier ist, er würde das hier zum Anlass nehmen, um dir ein paar höchst amüsante, und für mich sehr peinliche, Geschichten zu erzählen, wie ich mich aufgeführt habe, wenn ihr dann weg wart." Peter nahm die Erwähnung von Pauls Namen sofort zum Anlass, das Thema zu wechseln. Vielleicht bekam er nun die Gelegenheit, etwas mehr von Annie zu erfahren, unter anderem, wo sie die Nachrichten her bekam. "Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?", hakte der junge Shaolin sanft nach. Annies Gesicht nahm einen sehr sehnsüchtigen Ausdruck an, genauso klang auch ihre Stimme. "Ja, das tue ich. Ich würde alles geben, damit er zurück kommt." "Ist das noch nicht in Aussicht?" "Leider nicht. In der letzten Nachricht, die ich von ihm erhielt meinte er, es gäbe noch ein paar Dinge, die er erledigen müsse. Mehr konnte ich nicht erfahren." "Wann hast du sie bekommen?" "Vor sechs Wochen etwa." Sie fingerte an ihrer Braille-Armbanduhr herum, klappte den Deckel auf und wieder zu. "Diese Ungewissheit ist einfach schrecklich." Diesmal ergriff Peters Annies Hände. "Konntest du im letzten halben Jahr wenigstens mal mit ihm reden, damit du weißt, es geht ihm gut?" Eine kleine Träne quoll unter den dunklen Brillengläsern hervor. "Nur ein einziges Mal und das nur für ein paar Minuten. Aber das ist auch schon fast fünf Monate her. Seitdem habe ich nur sporadische Nachrichten erhalten." Sanft wischte der Shaolin die einsame Träne von Annies Wangen. "Vielleicht kannst du denjenigen, von dem du die Nachrichten bekommst, bitten, dass er Paul sagt, er möge sich bei dir melden." Annie drückte ihren Rücken durch, ein entschlossener Zug zeigte sich um ihren Mund. "Nein, was werde ich nicht tun. Ich werde Paul nicht in Gefahr bringen, nur weil ich unbedingt seine Stimme hören möchte. Das tue ich ihm nicht an. Lieber l…." Sie unterbrach sich mitten im Satz, allerdings Peter wusste auch so, was sie sagen wollte: 'lieber leide ich still vor mich hin'. Er hörte die Worte so deutlich in seinen Gedanken, als hätte seine Mutter sie ausgesprochen. Der junge Shaolin spürte die ersten Wellen von Ärger in sich aufwallen. Zorn auf den Menschen, der ihm eine neues Zuhause gegeben und aufgezogen hatte. Wie konnte er das seiner Frau nur antun? Wie konnte er das ihnen allen antun? "Das ist einfach nicht fair. Du hast ein Recht darauf, mit deinem Ehemann zu reden und ihn um dich zu haben. Paul ist nun schon fast drei Jahre verschwunden. Wie lange braucht er denn noch, um seine Angelegenheiten zu erledigen? Er könnte sich wenigstens öfter bei dir melden. Er verhält sich dir gegenüber einfach nur mies und rücksichtslos.", brach es aus ihm hervor, dabei war er sich schmerzhaft bewusst, dass ein großer Teil seiner eigenen Gefühle in der Rede mitschwang, denn auch er vermisste Paul unwahrscheinlich und fühlte sich von ihm allein gelassen. Annie entzog ihre Hände aus Peters Griff und stieß ruckartig einen Finger nach vorne, der den ehemaligen Detective mitten in der Brust traf. "Wage es nie wieder, so über deinen Vater zu reden. Hast du mich verstanden?", ereiferte sie sich zornig. "Paul ist ein guter Mann. Es tut alles, um seine Familie zu beschützen. Meinst du denn im Ernst, dass er sich wohl fühlt ohne uns? Soll er wirklich wissentlich uns einer Gefahr aussetzen, nur damit er bei uns sein kann? Willst du das?" Peter spürte Hitze in sich aufsteigen. Bestimmt leuchtete er schon hochrot vor Scham. Er klappte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber Annie unterbrach ihn sofort. "Paul ist aus dem Grund gegangen, damit wir sicher leben können. Er hat das größte Opfer gebracht, das man für seine Familie erbringen kann. Hätte er sich nicht von uns getrennt, wären wir wahrscheinlich schon alle tot. Du solltest dankbar sein, dass du einen Vater hast, dem das Wohl der Familie über alles geht und er dafür bereit ist, eben diese zurück zu lassen, auch wenn es ihm das Herz bricht." "Du!", wiederum fuchtelte sie mit dem Finger vor Peters Gesicht herum. "Du hast nicht den Hauch einer Ahnung welche Qualen und Unannehmlichkeiten dein Vater auf sich genommen hat, bevor er ging. Wir haben alles von euch Kindern fern gehalten, ihr müsst nicht alles wissen, oder euch damit belasten. Aber lass dir eines gesagt sein, Peter. Ohne Paul und seine Entscheidung wären wir nicht hier, wo wir heute sind. Ich möchte nie wieder hören, dass du so abfällig über meinen Mann redest!" Peter schluckte hart. So kannte er seine eher sanftmütige Mutter nicht. Hektische rote Flecken zeigten sich in ihrem Gesicht und ihre Unterlippe zitterte vor Anspannung. Sie tastete nach ihrer Kaffeetasse und trank den Inhalt in einem großen Schluck aus. Dann stellte sie das Porzellan klirrend auf dem Tisch ab. "Mom, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so aufregen. Es ist…nun es ist einfach nur hart, denn Paul fehlt mir so sehr", wisperte Peter. "Das geht uns allen so", erwiderte Annie, ein Hauch Unnachgiebigkeit schwang in ihrer Stimme mit. "Ich hätte so etwas niemals sagen sollen", führte Peter aus, dann erst registrierte er Annies letzte Aussage vollends. Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er nachsetzte: "Annie, was verheimlicht ihr uns? Was hat Paul getan, welchen Deal ging er ein?" Eine dunkle Wolke zog über Annies Gesicht. Sie versuchte ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben, schaffte es allerdings nicht ganz. "Peter, darüber kann und will ich nicht reden. Ich habe schon viel zu viel preisgegeben." Den jungen Shaolin hielt es nicht mehr auf dem Sofa. In einer fließenden Bewegung sprang er auf die Beine und fuhr sich aufgeregt durch die Haare. Die Welle von Angst, Bedauern und Sehnsucht, die von Annies Seite her auf ihn über schwappte ließ ihn sich innerlich krümmen. Er konnte keine Kleinigkeit sein, die seine Pflegeeltern von ihm und seinen Geschwistern fern gehalten hatten. Außerdem tat ihm die Erkenntnis, dass ausgerechnet Annie und Paul etwas vor ihm zurück hielten, in der Seele weh. "Mom, bitte sag mir ehrlich: steckt Dad in Schwierigkeiten? Kann ich ihm irgendwie helfen?", wollte er zitternd wissen. Seine Mutter tastete nach seiner Hand und zog ihn auf das Sofa herunter. Sehr ernst schaute sie in seine Richtung. Peter hatte das Gefühl, dass sie ihn mit den Augen fixierte, obwohl das Aufgrund ihrer Blindheit unmöglich war. "Peter, ich möchte, dass du dieses Gespräch hier vergisst. Und bevor du dich noch weiter aufregst: nein, Paul steckt nicht in Schwierigkeiten. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Bitte, versprich mir, dass du mit keinem darüber redest, was wir hier gesprochen haben. Mit keinem!" Peter schüttelte verwundert den Kopf. Er konnte sich absolut keinen Reim auf das Ganze machen. "Gut, ich verspreche es dir, Mom, auch wenn ich es nicht verstehe. Aber…vielleicht kann ich Kermit darauf ansprechen, immerhin ist er dein Bindeglied zwischen Dad und dir. Falls und ich sage nur falls…Dad Hilfe braucht, dann könnte ich doch etwas unternehmen.", schoss er ins Blaue, nun noch begieriger darauf zu erfahren, wer die Nachrichten zuspielte. "Wenn ich sage du sollst mit keinem darüber reden, dann meine ich das so, Peter", versetzte Annie entschlossen. "Außerdem ist Kermit nicht mein Kontaktmann zu Paul." Die Worte nahmen Peter den Wind aus den Segeln. Er hatte fest damit gerechnet, dass sich sein Verdacht bestätigte, vor allem da Kermit ihm auf die Frage immer ausgewichen war. Mit offenem Mund musterte er seine Mutter. "Wenn nicht er, wer dann?", rutschte es ihm heraus. Annies Gesicht verlor etwas von seiner Anspannung. Peter konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, ihn auch in dieser Hinsicht enttäuschen zu müssen. Das, Peter nannte es immer 'Mom-Face', kehrte in ihr Antlitz zurück. "Tut mir leid, Liebling. Aber auch das kann ich dir nicht sagen. Bitte versteh das. Es geht um die Sicherheit von uns allen, dass das geheim bleibt.", erklärte sie sanft. Peter strich sein Hemd glatt und fummelte unangenehm berührt am ersten Knopf herum. Es tat ihm jetzt sehr leid, dass er seine Mutter in seinem Überschwang der Gefühle dieser Zerreißprobe aussetzte. Sie hatte schon genug Sorgen auf ihren schmalen Schultern lasten, da musste er sie nicht noch zusätzlich mit Fragen angehen, auf die sie nicht antworten durfte. Die langen Jahre zusammen mit Kermit und Paul hätten ihn lehren müssen, dass es nun mal Dinge gab, die man für sich behalten musste. Und Annie war nun mal die Frau eines ehemaligen Söldners und somit gehörte sie zum Club. Es reute ihn sehr, dass er mal wieder sein Mundwerk dem Vorrang gegeben hatte und erst hinterher nachdachte. Gewollt entspannt meinte er: "Ist schon gut, Mom. Alles ist Top Secret, ich habe es kapiert. Und ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder darüber ausfragen. Großes Indianerehrenwort." Annie stieß erleichtert die Luft aus. Peter wusste tief im Inneren, dass er seine Mutter keinen Moment lang mit seinem Stimmungsumschwung hinters Licht führen konnte. Dass sie den Moment unkommentiert ließ, normalerweise sprach sie ihn immer an, wenn er versuchte, ihr etwas vorzumachen, sagte ihm, wie verzweifelt Annie dieses Gespräch beenden wollte. Krampfhaft überlegte er, wie er das Thema wechseln konnte und sprach schnell weiter. "Oh, hat dir Cara eigentlich erzählt, was die Sung Zwillinge mit ihrem Kätzchen angestellt haben?" Annie ging sofort darauf ein. "Nein, hat sie nicht." Ein kleines Lächeln huschte über Peters Gesicht, als er an die Begebenheit dachte. "Misses Sung kam ganz aufgeregt bei den Griffins vorbei. Sie bat Cara, auf ihre Kinder acht zu geben, weil sie zu ihrer Arbeit müsse und sich der Babysitter überraschend krank gemeldet hat. Natürlich sagte Cara sofort zu. Im Umzugsstress achtete sie nicht so sehr auf die beiden Kleinen, denen natürlich die Freiheit ziemlich gefiel und sie das Haus als ihre Spielwiese betrachteten. Jedenfalls müssen die beiden ihren Schminkkasten gefunden haben und plötzlich huschte eine kunterbunte Katze an uns vorbei. Clumsy lief direkt auf Cara zu. Die Gute fiel beinahe um vor Schreck und Kermit und ich lagen am Boden vor Lachen. Die beiden Sungs hatten wirklich gute Arbeit geleistet, nur Clumsys Gesicht war noch weiß, der Rest leuchtete in allen Lidschattenfarben. Es ist so schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei hatte, Caras Gesicht und dazu noch die bunte Katze waren wirklich sehenswert. Es endete damit, dass Kermit und ich als Strafe dazu verdonnert wurden die Böden zu putzen, denn Clumsy hatte auf ihrer Flucht vor den Kindern jede Menge von der bunten Pracht verloren und Cara hat Clumsy gebadet, die das gar nicht mochte. Das war ein Durcheinander sage ich dir." Annie stimmte in Peters Lachen mit ein, auch wenn es nicht ganz echt klang. In dem Moment erklang das Geräusch eines Schlüssel, der ins Schloss gesteckt wurde. Ein paar Sekunden später fegte Kelly freudestrahlend in den Raum. Peter sprang sofort auf, mehr als froh über die willkommene Ablenkung. Er fing Kelly auf, die ihre College-Tasche einfach auf den Boden fallen ließ und ihm freudestrahlend um den Hals fiel. "Hey, großer Bruder, wie schön dass du dich auch mal wieder blicken lässt", begrüßte sie ihn und küsste ihn auf die Wange. "Hey Kelly, es ist auch toll, dich zu sehen. Ich dachte schon, ich verpasse dich", erwiderte er und schwang sie einmal im Kreis herum, bevor er sie wieder auf die Beine stellte. "Zwei Vorlesungen sind ausgefallen, deshalb konnte ich früher nach Hause. Wie geht es dir und Jody?" Peter grinste. "Es geht uns gut und wie schaut es bei dir aus? Kein neuer Freund in Sicht?" Kelly verzog das Gesicht. "Nein, danke. Ich genieße erst Mal meine Freiheit. Die Jungs können im Moment bleiben, wo der Pfeffer wächst." Annie erhob sich nun ebenfalls. "Kelly, möchtest du auch einen Kaffee?" "Das wäre toll, danke Mom", erwiderte die junge Dame und wandte sich pflichtschuldigst ihrer Mutter zu, um ihr ebenfalls einen kleinen Kuss auf die Wange zu geben. "Aber bemüh dich nicht, ich hole ihn mir selbst. Willst du auch noch einen?" Annie ließ sich überreden und nahm ihren Platz auf der Couch wieder ein. "Nein Danke, Schatz. Wenn ich zuviel trinke, dann kann ich heute Abend nicht mehr schlafen." "Okay, Mom." Die junge Frau wirbelte in die Küche. Man hörte lautes Klappern, dann kehrte sie mit einer vollen Tasse zurück, setzte sich in den Sessel neben dem Sofa, schlug die Beine untereinander und schaute Peter auffordernd an. "So, und nun erzähle. Was gibt es neues aufregendes in der Welt des Peter Caine?" "Nicht viel. Es sei denn du möchtest mehr über meine nicht vorhandenen Fähigkeiten als Apotheker wissen." Kelly erhob lachend die Hände. "Oh nein, das lass mal lieber sein. Ich habe heute drei Stunden Biologie hinter mir, das reicht mir für den Rest der Woche. Andererseits, wenn du schon mal hier bist und der große Kräuterkenner, könntest du doch schnell meine Hausaufgaben in Biologie erledigen. Ich wäre dir ewig dankbar", meinte sie verschmitzt. "Vergiss es, das musst du schon selbst machen. So viel kannst du mir gar nicht zahlen, als dass ich noch einmal freiwillig irgend welche Hausaufgaben machen würde", gab Peter seine Standardantwort. Wie oft Kelly diesen Trick schon bei ihm versucht hatte, konnte er gar nicht mehr zählen. Sie verstrickten sich in gutgemeinte geschwisterliche Neckereien, bis Annie die beiden lachend unterbrach und Kelly anwies, erst einmal ihre Schulsachen aufzuräumen. Dies war eine feste Regel im Hause Blaisdell. Jeder musste immer seine Sachen aufgeräumt haben, damit Annie nicht darüber fallen konnte. Kelly erhob sich murrend und machte sich daran, die Order auszuführen. Der Rest des Nachmittags verlief in einer gelösten, fröhlichen Atmosphäre. Kellys Anwesenheit und ihre jugendliche Unbekümmertheit trug viel dazu bei, dass sich sowohl Annie als auch Peter merklich entspannten und das vorherige, ernste Gespräch verdrängten. Ein paar Stunden später, es dämmerte schon, verabschiedete sich Peter von den beiden mit dem Versprechen, am Wochenende wieder zu kommen und diesmal auf Jody mitzubringen. Dann fuhr er nachdenklich nach Hause und ließ alles noch einmal Revue passieren.
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