Kapitel 8
Autor: Fu-Dragon

 

Peter wanderte am Ufer des kleinen Sees entlang. Ein leichter Wind fuhr durch die Bäume, die den Rand säumten und ließ die Blätter leise rascheln. Das Wasser des Sees kräuselte sich leicht, Peter beobachtete fasziniert die kleinen Ringe, die sich auf der Oberfläche bildeten und sich immer mehr ausweiteten.

Hier, an seinem geheimen Platz, fühlte er sich am wohlsten. Er konnte die Seele baumeln lassen, ohne dass ihn jemand störte. Ein schriller Schrei ließ ihn nach oben blicken. Ein großer Weißkopfseeadler zog seine Kreise am Himmel. Plötzlich stieß er herab und kam nicht einmal zwei Meter neben dem jungen Shaolin auf dem Erdboden auf. Gleich darauf erhob sich das mächtige Tier wieder in die Lüfte und Peter erkannte erstaunt die Maus, die zwischen den Krallen des Adlers ihr Ende gefunden hatte.

Zutiefst ergriffen von dem kleinen Naturschauspiel, steuerte Peter auf die schmale Parkbank nahe dem Ufer zu und setzte sich. Von hier aus hatte er einen wunderschönen Blick über den gesamten See und konnte seiner Lieblingsbeschäftigung an diesem Ort nachgehen – beobachten und nachdenken.

Der ehemalige Detective schloss die Augen und ließ sich treiben, während er tief den würzigen Geruch von frischem Gras und Salzwasser in seine Lungen sog. Noch einmal ließ er die Ereignisse des Tages in seinen Gedanken Revue passieren. Je nachdem, was er gerade vor sich sah, lachte er leise oder verzog das Gesicht.

Tiefe Sehnsucht nach Paul erfasste ihn. "Ich würde alles darum geben, wenn ich wenigstens nur ein paar Minuten mit dir reden könnte. Ich habe so viel Fragen", murmelte er vor sich hin.

Sein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, er könne Paul womöglich nie wieder sehen. Eine kleine Träne zog ihre Bahn über seine Wange, die er mit einer rüden Bewegung weg wischte.

Plötzlich verspürte Peter einen kräftigen Sog, der seinen ganzen Körper erfasste. Erschreckt riss er die Augen auf und musste miterleben, wie sich sein geheimer Platz vor seinen Augen auflöste. Von einem Moment zum anderen fand er sich in einem ziemlich kleinen und schäbig aussehenden Raum vor. Ein Bett mit zerschlissener Matratze befand sich an der einen Wand, auf der eine Gestalt lag, die er nicht erkennen konnte. Daneben befand sich ein Nachttisch auf dem eine beinahe herunter gebrannte Kerze und ein Wecker stand. Beides neigte sich in Schieflage, denn der Nachttisch hatte nur noch drei Beine. Gegenüber ragte ein zerkratzter Schrank empor, der eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Verwirrt rieb sich Peter über die Augen. Die modrige, abgestandene Luft ließ ihn keuchen und er bedeckte Mund und Nase mit seiner Hand. Er wollte einen Schritt auf die unbekannte Person zugehen, doch da löste sich der Raum schon wieder vor ihm auf und er fand sich auf der Parkbank vor.

"Was ist hier los?", fragte er sich laut, während er sich ratlos umschaute. Nichts schien sich verändert zu haben, sah man von der absoluten Windstille ab.

Peters Nackenhaare stellten sich auf, er lauschte in die Stille. Bildete er es sich nur ein, oder hörte er tatsächlich Schritte? Doch wie konnte das sein? Hierher verirrte sich nie jemand. Alle Muskeln angespannt erhob sich der Shaolin. Er neigte den Kopf, um besser hören zu können und stellte fest, dass er sich nicht täuschte. Da lief wirklich jemand durch die Gegend. Unwillkürlich nahm er eine Kampfposition ein.

Eine Gestalt löste sich von den Bäumen. Noch lag das Gesicht im Dunkeln, doch Peter kam die Person irgendwie bekannt vor. Zögernd machte er einen Schritt nach vorne. Dann noch einen und noch einen und dann rannte er los. Die andere Person beschleunigte ebenso ihre Schritte und eilte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.

Der junge Shaolin erreichte den Mann und warf sich ihm in die Arme. "Paul, mein Gott, Paul, du hier!", stieß er hervor.

So fest er konnte, hielt er seinen lang vermissten Vater fest. Tränen liefen ihm über die Wangen, doch diesmal ließ er es einfach laufen. Nur am Rande bekam er mit, dass sein Vater ihn ebenso fest umarmte, wie er ihn.

Es dauerte mehrere Minuten, bis sich Peter soweit gefasst hatte, dass er loslassen und Paul ins Gesicht schauen konnte. Kritisch musterte er ihn von oben bis unten. Paul hatte sich kaum verändert. Gut, es waren einige graue Haare hinzugekommen und die Linien in seinem Gesicht hatten sich tiefer eingegraben, aber sonst sah er noch immer so aus, wie der Vater, der sich vor beinahe drei Jahren von ihm verabschiedet hatte.

"Bist du es wirklich?", wisperte Peter mit der Stimme eines kleinen Kindes.

Pauls Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. "Was denkst du denn, mein Sohn?"

Obwohl er ihn gerade noch kräftig umarmt hatte, streckte Peter nun eine Hand aus und tippte gegen die Schulter seines Pflegevaters. Die Angst, es könne sich um eine Fata Morgana handeln erwies sich als unbegründet, seine Finger stießen gegen warmes Fleisch.

Spontan zog der junge Shaolin den älteren Mann erneut in seine Arme. "Ich habe dich so vermisst, Dad."

"Ich dich auch, mein Junge." Er klopfte Peter kräftig auf den Rücken. "Dein Überschwang in allen Ehren, aber wenn du weiterhin so fest zudrückst, dann stellst du mir die Luft ab."

Lachend und weinend zugleich ließ Peter von ihm ab. "Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist."

Paul sah sich um. "Ich kann es selbst kaum glauben. Es tut so gut, dich wieder zu sehen. Wie geht es dir, mein Sohn?"

Der junge Shaolin rieb sich über das Gesicht. "Es geht mir gut soweit. Und wie geht es dir?"

Paul zeigte zur Bank. "Wollen wir uns nicht setzen? Dann können wir uns besser unterhalten."

Peter nickte und ging sofort los, Paul folgte langsamer hinterher. Die beiden nahmen Platz. Der junge Shaolin konnte seine Augen kaum von seinem Pflegevater nehmen, noch immer konnte er nicht fassen, wie dieser hierher gekommen war. Schon sprach er die Frage auch aus.

Paul zuckte die Schultern. "Das weiß ich nicht. Eben lag ich noch in meinem Bett und dann war ich hier."

In dem Moment wurde Peter schmerzhaft bewusst, dass er träumte. Tiefe Pein zuckte durch seine Seele. Prompt verwandelte sich seine Freude in Wut. Vollkommen übergangslos schrie er seinen Vater an: "Warum hast du uns verlassen?"

Paul rieb sich über das stoppelige Kinn. "Du kennst den Grund, Peter."

"Verdammt! Nein, ich kenne den Grund nicht. Du kannst mich nicht einfach mit dieser Phrase abspeisen. Ich will wissen, warum du gegangen bist und uns alle alleine gelassen hast!", ereiferte sich Peter.

"Ich kann dir nicht mehr sagen. Damit ihr alle sicher seid, musste ich euch verlassen."

"Du willst damit nur überspielen, dass du von uns die Schnauze voll hast. Wenn du uns nicht mehr liebst, dann gibt es andere Wege, sich zu trennen. Du musst uns nicht hoffen lassen, wenn es keine Hoffnung gibt!"

Pauls Gesicht verdunkelte sich. "Du bist noch nicht zu alt, um von mir übers Knie gelegt zu werden, junger Mann. Deine Beschuldigungen sind vollkommen haltlos. Würdet ihr mir nicht über alles gehen, dann hätte ich diese Tortur nicht auf mich genommen!", versetzte er hart.

Ein Teil der Wut verrauchte, als Peter in Pauls stahlblaue Augen blickte in denen derselbe Schmerz zu lesen stand, den auch er empfand.

"Aber warum, Paul? Ich verstehe das nicht. Warum musst du so lange fort sein?"

Paul atmete tief ein. "Was ich dir jetzt sage muss unter uns bleiben. Annie darf auf keinen Fall etwas davon erfahren, versprichst du mir das?"

Peter nickte bekräftigend. "Versprochen."

"Nachdem Stiles und Cooper festgenommen und ich vom Vorwurf des Mordes frei gesprochen wurde, nahm einer der Mitglieder der Falcons noch einmal Kontakt mit mir auf. Er teilte mir mit, dass Stiles einen der Drahtzieher von Kiew ermorden lassen ließ. Wie bei Senator Matheison ließ er es so aussehen, als ob ich hinter dem Mord stehen würde. Dieser jemand hatte einen Sohn und dieser wiederum hat ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt. Als ich das erfuhr, konnte ich nicht mehr bei euch bleiben, denn ich kenne diese Leute, sie schrecken vor nichts zurück. Es blieb mir nichts anderes übrig, als euch zurück zu lassen, denn ich muss diese Sache bereinigen und ein für alle Mal dafür sorgen, dass die Verräter von der Bildfläche verschwinden."

Peter lauschte seinem Pflegevater mit offenem Mund. "Aber das hättest du doch sagen können. Kermit und ich, wir wären sofort mit dir mitgekommen und hätten dir geholfen."

Paul verzog das Gesicht. "Genau aus jenem Grund konnte ich euch keinen reinen Wein einschenken. Ich brauche euch beide hier vor Ort, jemand muss Annie, Kelly und Carolyn beschützen falls es nötig ist. Ich vertraue keinem mehr, als euch beiden."

Beinahe verzweifelt rieb er sich über das Kinn. "Außerdem hängt noch einiges mehr an der Sache dran, aber das kann ich dir leider nicht sagen. Auch wenn du es nicht wahr haben willst, mein Sohn, dies ist eine Ein-Mann-Mission. Es ist essentiell, dass ich sozusagen unter dem Radar bleibe. Es steht noch viel mehr auf dem Spiel, als nur eure oder meine Sicherheit."

Der junge Shaolin sprang auf. Aufgeregt fuhr er sich durch die Haare. "Dad, mir gefällt die ganze Sache nicht. Gibt es denn nichts, was ich tun kann?"

"Nein, es gibt nichts, mein Junge." Paul erhob sich ebenfalls und umfasste Peters Schultern. "Ich habe schon einiges erreicht und stehe kurz vor meinem Ziel. Jede Einmischung von Außen könnte katastrophale Folgen haben. Ich sehe dir an, dass du dich gerne einmischen willst, aber du darfst das unter keinen Umständen tun. Hörst du?"

Peter versteifte sich. "Aber ich…"

Paul unterbrach den ehemaligen Cop mitten im Satz. "Nein, Peter! Du musst dieses Gespräch hier so behandeln, als hätte es niemals statt gefunden. Ich habe dir schon viel zu viel erzählt. Versprich mir, dass du nichts unternimmst!", verlangte er noch einmal.

Peter sah seinem Vater an, wie ernst es ihm war. Obwohl alles in ihm schrie, dem Befehl zuwider zu handeln, konnte er es nicht tun. Da gab es etwas in Pauls Blick, das absoluten Gehorsam forderte. Seine Schultern sanken besiegt herab.

"Okay, Dad, ich verspreche dir, dass ich nichts unternehmen und mit niemandem reden werde. Bist du nun zufrieden?"

Paul hielt den intensiven Blickkontakt einige Sekunden, bevor er zufrieden nickte. Dann lächelte er leicht, umfasste Peters Ellbogen und führte ihn zur Bank zurück.

"Nachdem das nun geklärt ist. Wie geht es meiner Annie?"

"Mom geht es soweit gut. Sie vermisst dich sehr, aber sie ist sehr tapfer und lässt es sich nicht anmerken. Heute waren wir alle…"

Peter hielt mitten im Satz inne, er spürte, wie Hitze in seine Wangen stieg. "Ach herrje." Er ergriff Pauls Hand und drückte sie kräftig. "Alles Gute zu deinem Geburtstag, Dad. Ich hoffe von Herzen, dass wir den nächsten alle zusammen feiern können."

Sehnsucht flackerte in Pauls Augen auf. "Danke schön. Ich wünsche es mir ebenfalls von Herzen, dass ich dann wieder Zuhause bin. Erzähl bitte weiter."

"Wir…nun wir waren heute alle bei Annie, um auf deinen Geburtstag anzustoßen. Den Nachmittag verbrachten wir mit Geschichten über dich." Plötzlich musste er grinsen. "Erinnerst du dich zufällig an einen gewissen Vorfall mit einem frisch gedünkten Blumenbeet?"

Paul schüttelte ungläubig den Kopf, zarte Röte überzog nun auch seine Wangen. "Strenlich, dieser Verräter, das konnte nur von ihm kommen. Erzählt er einen meiner peinlichsten Momente. Na warte, der kann was erleben", meinte er im Scherz.

"Och, wir hatten viel zu Lachen, das ging schon in Ordnung. Annie tat es wirklich gut, dass das Haus mal wieder mit Leben erfüllt war. Nachdem Carolyn geheiratet hat und Kelly nun studiert, ist es doch ziemlich still geworden." Er wurde ernst. "Es ist so schade, dass du dein Enkelkind noch nie gesehen hast. Der kleine Tom wächst und gedeiht, er ist ein wahrer Prachtkerl."

Paul griff an seine Gesäßtasche und zog seine Brieftasche heraus. Er klappte sie auf und zu Peters Erstaunen zeigte dieser ihm ein Foto mit Carolyn, Todd und Tom. Weitere Bilder folgten. Peter sah sich selbst und Jody lachend in einem Straßencafe sitzen. Dann gab es noch ein Hochzeitsfoto von Kermit und Cara und auch Kelly mit ihrem damaligen Freund hatte den Weg zu Paul gefunden. Weiterhin gab es noch jede Menge Bilder von Annie in den verschiedensten Situationen.

"Meine Verbindung zur Heimat", erklärte Paul leise.

"Wow, wie kommst du an all die Bilder?", plapperte der junge Shaolin drauf los. "Cara kannst du unmöglich kennen, aber es scheint, du bist über alles gut informiert. Immerhin bin ich mit Jody erst seit kurzer Zeit zusammen, das Foto hier ist gerade mal drei Wochen alt."

Der ehemalige Captain grinste verschwörerisch. "Ich habe meine Quellen, die mich immer mit den neuesten Informationen versorgen. So kann ich wenigstens in Gedanken bei euch sein."

"Und die Quelle heißt Kermit, da gehe ich jede Wette ein", versetzte Peter ein klein wenig verletzt.

"Die Wette würdest du verlieren, Junge."

Der Shaolin seufzte unzufrieden. "Verdammt, dasselbe sagte auch Annie. Ich hatte gehofft, wenigstens von dir etwas heraus zu bekommen."

"Den Gefallen kann ich dir nicht tun. Je weniger zu weißt, desto besser ist das." Pauls Gesichtsausdruck verdüsterte sich. "Ich hoffe nicht, dass du meiner Frau zu sehr zugesetzt hast. Sie hat es nicht verdient, dass du sie mit Fragen löcherst."

Beschämt murmelte Peter. "Man wird doch auch mal Fragen dürfen." Dass er erst vor wenigen Tagen einen Streit mit Annie deswegen hatte, behielt er für sich. Er spürte, dass er keine andere Antwort von seinem Pflegevater bekommen würde. Dabei hätte er ihn so gerne gefragt, was für einen Deal dieser eingegangen war, der Annie so an die Decke hatte gehen lassen.

"Uhm, weiß du eigentlich auch, dass Kermit und Cara gerade auf Hochzeitsreise sind?", lenkte er schnell ab.

"Ja, sie befinden sich auf den Bahamas", antwortete Paul prompt. "Am Donnerstag kommen sie wieder, richtig?"

"Sofern nichts dazwischen kommt. Bei den Beiden weiß man ja nie", versetzte Peter scherzhaft.

"Ich hoffe doch nicht. Und wenn wir gerade von Paaren reden. Wie geht es dir mit Jody?"

Ein Strahlen überzog Peters Antlitz. "Es geht uns wunderbar. Ich kann mir ein Leben ohne sie schon gar nicht mehr vorstellen. Sie ist einfach wunderbar und akzeptiert mich so wie ich bin."

"Das freut mich zu hören. Wie kommst du mit deiner Rolle als Shaolin zurecht?"

Peter starrte auf den Boden. "Bist du sauer auf mich, weil ich den Polizeidienst quittiert habe?", hielt er dagegen.

"Nein, woher denn?" Eine Hand tippte gegen sein Kinn, langsam hob er den Kopf. "Peter, du sollst eines wissen, egal was du tust und wie du dich entscheidest, ich werde immer stolz auf dich sein! Du bist deiner Berufung gefolgt und ich weiß, dass dir diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Im Prinzip hast du doch nur deine Waffe gegen eine Priesterrobe getauscht. Du tust noch immer das, was du am Besten kannst, dich um andere Menschen kümmern."

Peter lächelte leicht. "Beinahe genau denselben Satz sagte Simms auch zu mir beim Abschied auf dem Revier. Irgendetwas muss wohl dran sein." Unwillkürlich strich er sich über den Arm, dort wo sein Brand von seinem Hemd verborgen war.

Paul folgte der Bewegung. "Zeigst du ihn mir?"

Peter schluckte hart. "Du willst ihn wirklich sehen?"

"Ja, das will ich."

Peter atmete tief ein, bevor er die Manschetten seines Hemdes öffnete und die Hemdsärmel hochzog. Dann drehte er die Handflächen so um, dass Paul den eingebrannten Tiger und den Drachen gut erkennen konnte.

Der ehemalige Captain streckte die Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen des Drachen nach. "Unglaublich, dass ihr euch das wissentlich antut", murmelte er.

"Es musste sein, denn durch die Annahme des Brandes erreichen wir Shaolin eine höhere Bewusstseinsebene. Außerdem wäre mein Vater gestorben, wenn ich es nicht getan hätte. Nur so konnte ich mein Chi mit ihm teilen", erklärte er.

Mit einem kleinen Ruck entzog er Paul den Arm und streifte sein Hemd wieder herab. Irgendwie erschein es ihm plötzlich nicht richtig, dem einen Vater das Symbol zu zeigen, das den anderen Vater gerettet hatte und zu wissen, dass er für Paul nichts tun konnte.

"Das hört sich für mich an, als hättest du den Brand nur unter Zwang angenommen. Bereust du es?", dachte Paul laut nach.

Peter schüttelte den Kopf. "Nicht mehr. Ich gebe zu, am Anfang fühlte ich mich überfahren und in eine Falle gelockt. Ich konnte nicht verstehen, warum Lo Si Paps nicht sein Chi geben konnte, aber heute weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung traf. Nur ein Caine konnte einen Caine besiegen."

Er lehnte sich leicht zurück und starrte über den See. "Ich dachte, nun da ich den Brand erhalten habe, muss ich dem Pfad meines Vaters folgen, doch Paps erklärte mir in einem langen Gespräch, dass dem nicht so war. Dass ich den Job kündigte und beschloss, als Shaolin Priester tätig zu werden, war ganz alleine meine Entscheidung. Niemand hat mir hinein geredet."

"Aber du wurdest doch praktisch in diese Rolle hinein gezwungen durch Caines Weggang", gab Paul zu bedenken.

"Das habe im am Anfang auch so empfunden, aber dann wurde mir klar, dass Paps erst ging, nachdem ich gekündigt hatte. Er wäre so oder so gegangen, nachdem Lo Si ihm das Bild mit Laura gab."

"Warst du nicht wütend auf den Ehrwürdigen?"

Peter lachte trocken auf. "Und ob ich das war! Ich habe Tagelang nicht mehr mit ihm geredet und ihm einige unschöne Sachen an den Kopf geworfen. Aber als ich dann zum Nachdenken kam, erkannte ich, dass es so am Besten war und schloss wieder Frieden mit Lo Si."

"Wie meinst du das? Am Besten?"

"Nun…da Paps weg war, gab er mir so die Chance, mich als Shaolin in Chinatown zu etablieren. Es gab nur noch einen Caine und die Leute gewöhnten sich langsam daran, zu mir mit ihren Problemen zu kommen. Wäre er geblieben, wäre ich immer nur Caines Sohn geblieben und niemand hätte mich richtig ernst genommen. So konnte ich beweisen was ich kann. Lo Si tat genau das richtige, indem er Paps quasi weg schickte."

Pauls Blick drückte höchste Anerkennung aus. "Ich sehe, du hast dich sehr verändert, mein Sohn. Du bist reifer geworden, überlegter. Zu meiner Zeit warst du immer ein nervliches Wrack, wenn sich Caine auf Wanderschaft begab, aber nun scheinst du es gut wegstecken zu können. Der Peter, den ich kannte, hätte Lo Si die Hölle auf Erden bereitet."

Peter grinste schräg. "Ganz so ist es nicht. Ich bin immer noch genauso stürmisch wie früher, nur habe ich mich jetzt besser im Griff und denke zuerst nach, bevor ich etwas tue. Meistens zumindest."

"Also alles beim Alten", schmunzelte Paul. "Abgesehen davon, bist du zufrieden mit dem Leben, das du nun führst?", griff er seine vorherige Frage wieder auf.

"Ja, das bin ich. Manchmal vermisse ich meine ehemaligen Kollegen schon und das Revier, doch wenn ich in die Kinderaugen sehe, die mich nach einer Kung Fu Stunde fröhlich anstrahlen, oder einem der Bewohner Chinatowns helfen kann, dann weiß ich, dass ich meinen Platz im Leben gefunden habe. Tja, und jetzt ist auch noch Jody da. Perfekter könnte mein Leben gar nicht sein. Nur eines fehlt noch zum vollkommenen Glück – du, Dad."

Paul ergriff Peters Hände und drückte sie fest. "Peter, ich verspreche dir, eines Tages werde ich wieder vor deiner Türe stehen."

"Aber wann?"

"Das kann ich dir nicht sagen. Ich hoffe bald, mein Sohn."

Das Klingeln eines Weckers zerriss die Stille. Beide zuckten zusammen.

"Peter, ich muss gehen", stieß Paul hervor. Er zog den jungen Shaolin in eine kräftige Umarmung. "Ich habe euch alle sehr lieb, vergiss das nicht. Und gebe nie die Hoffnung auf, ich komme zurück!"

Peter erwiderte die Umarmung mit aller Kraft. "Versprichst du mir das?", wisperte er.

"Ja, ich verspreche es. Ich hab dich lieb, Peter."

"Ich hab dich auch lieb, Dad."

Eine Sekunde später löste sich Pauls Figur auf. Peter griff ins Leere und fiel beinahe vornüber.

"Paul!", schrie er aus Leibeskräften. Zurück kam nur ein Echo, zurück geworfen von den Felsen in der Ferne.

****

"Paul!"

Mit einem Ruck fuhr Peter aus dem Bett hoch. Wild schaute er um sich. Es gab keinen Wald, keinen See, keine Felsen, er befand sich in seinem Schlafzimmer.

"Peter? Was ist los? Alles in Ordnung?", ertönte eine schlaftrunkene Stimme neben ihm.
Eine Hand strich sanft über seinen Rücken.

Der junge Shaolin zuckte zusammen, es dauerte einen Moment, bevor er realisierte, dass er mit Jody in seinem Bett lag und diese ihn besorgt musterte. Instinktiv zog er sie an sich und hauchte einen Kuss auf ihr Haar.

"Ja, alles okay, mach dir keine Sorgen."

"Bist du sicher? Du hast Pauls Namen gerufen", meinte sie misstrauisch.

Der ehemalige Cop horchte in sich hinein. Obwohl er Paul im Moment mehr denn je vermisste, stellte er fest, dass der Schmerz, den er dabei immer empfand, diesmal ausblieb. Irgendetwas sagte ihm, dass der Traum nicht nur ein Traum gewesen war. Er meinte sogar noch immer, Pauls Aftershave riechen zu können und seine Stimme hallte in seinen Gedanken wieder. 'Ich verspreche es. Ich komme zurück.'

Ein strahlendes Lächeln umspielte seine Lippen. "Ich habe von ihm geträumt."

"Ein Alptraum?"

Das Lächeln verbreitete sich. Jody mit sich ziehend und ihren Kopf an seine Schulter bettend, legte er sich in die Kissen zurück.

"Nein, mein Schatz. Ganz im Gegenteil. Schlaf weiter, Liebling."

"Wenn du meinst", murmelte sie müde. Einen Moment später verkündeten tiefe Atemzüge ihre Rückkehr in Morpheus' Arme.

Peter starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Das Glücksgefühl ergriff immer mehr von seinem Körper Besitz. *Ich habe mit Dad gesprochen und er kommt zurück!*, jubelte er in Gedanken. *Die paar Monate, bis er wieder hier ist, schaffe ich schon noch.* Dann schlief auch er zufrieden ein.

***********

Zur selben Zeit in einem Ort am anderen Ende der Welt.

Das schrille Läuten des Weckers ließ Paul auffahren. Mit halb geschlossenen Augen tastete er nach dem Krachmacher. Die Bewegung genügte, um den dreibeinigen Nachttisch vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er neigte sich nach vorne und alles fiel zu Boden. Das schrille Klingeln verstummte.

Paul verdrehte die Augen. "Mist", murmelte er. Er kämpfte sich mühsam von der durchgelegenen, zerschlissenen Matratze hoch und stellte den Nachttisch an seine ursprüngliche Position zurück. Dabei rutschte die Schublade auf und seine Brieftasche fiel zu Boden. Er bückte sich und griff nach ihr.

Das Etui klappte auf und enthüllte Annies liebliche Gesichtszüge. Wehmütig setzte sich der ehemalige Captain des 101. auf das Bett, das knarrend unter seinem Gewicht nachgab. Mit der Fingerspitze fuhr er Annis Lippen nach. Lippen, die er so gerne wieder kosten wollte. Er blätterte weiter und kam zu dem Bild, das Jody und Peter zusammen in einem Straßencafe zeigte.

Plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Peters Anblick brachte den Traum zurück. Im Geiste durchlief er noch einmal jede Szene, jedes Gespräch. Ihm war, als könne er Peters Essenz noch immer spüren.

Leise seufzend ließ er sich auf die lumpige Matratze sinken und schloss die Augen. Die paar Minuten nahm er sich noch, dann musste er sich eben nachher im Badezimmer beeilen. Er versuchte, sich den Traum in jedem Detail einzuprägen, damit er ihn ja nicht mehr vergaß. Das alles kam ihm langsam so real vor, als hätte er wirklich mit Peter gesprochen. Zum ersten Mal seit langem spürte er so etwas wie Zufriedenheit in sich aufsteigen. Seine Lieben kamen ihm nicht mehr ganz so entfernt vor. Wärme durchflutete ihn und er lächelte.

"Ja, Peter, ich komme wieder zurück", flüsterte er in den Raum. "Nur noch ein paar Dämonen sind auszumerzen, dann bin ich wieder bei euch – für immer."


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