Peter bemerkte, wie der Inspektor abrupt stehen blieb. Auch ihn irritierte der plötzliche Lichtausfall und ein Kribbeln im Nacken bestätigte ihm, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Als die erste Gestalt aus dem Halbdunkel zwischen den Wagen auftauchte, hielt er seine Waffe bereits in der Hand. Vier seltsame Figuren, die aussahen als seien sie direkt einem Horrorfilm entstiegen, kreisten die beiden Männer ein. Sie ähnelten altertümlichen, chinesischen Kriegern. Ihre Lederrüstungen hingen in Fetzen an ihren Körpern herab und gaben den Blick auf gräulich verwesende Haut und blanke Knochen frei. Die Überreste ihres Brustharnischs zierte ein roter Drache. Zwei von Ihnen trugen Langschwerter in den knöchernen Händen, die beiden anderen umklammerten bedrohlich aussehende Speere. Peter schüttelte ungläubig den Kopf. Unter den Blechhelmen starrten ihm glutrote Augen aus zum Teil skelettierten Gesichtern entgegen. Pure Mordlust stand darin geschrieben, was Peter einen Schauer über den Rücken trieb. "Hey, Jungs, tolle Halloweenmasken, aber wir haben leider keine Süßigkeiten für euch dabei", versuchte er einen schwachen Scherz. Doch die Vier schlossen den Kreis nur um so enger, darauf bedacht ihren Opfern keinen Fluchtweg zu lassen. "Detective, seien sie vorsichtig, das sind keine Masken", zischte der Inspektor neben ihm. Er hielt nun ebenfalls eine Waffe in der Hand und versuchte, einen der Krieger ins Visier zu nehmen. Als hätten sie das bemerkt, begannen die Gestalten einen wilden Tanz um die Polizisten herum aufzuführen. Während Peter noch versuchte den Gegner mit den Augen zu verfolgen, ging dieser bereits zum Angriff über. Unvermittelt flog wie aus dem Nichts einer der Speere auf ihn zu. Dank seines Shaolintrainings gelang es Peter gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu werfen und über die Schulter abzurollen. Damit stand er nun allerdings nicht mehr direkt neben Sinclair und sie konnten einander nicht mehr gegenseitig decken. Während der Detective sich auf die zwei unmittelbar vor ihm stehenden Angreifer konzentrierte, hörte er den vertrauten Klang einer Beretta. Sinclairs Waffe. Im selben Moment stürzte sich einer der Krieger mit hocherhobenem Schwert auf Peter. Der junge Cop zielte auf dessen Schulter und drückte ab. Der Treffer blieb ohne Wirkung. Peter feuerte ein zweites Mal. Diese Kugel traf die Horrorgestalt mitten in die Brust und ließ sie zurücktaumeln. Peter wollte aufatmen, als er entsetzt erkannte, dass sie sich sofort wieder fing und zu einem erneuten Angriff ansetzte. Auch eine weitere Kugel stoppte den Angreifer nicht. Aus dem Augenwinkel bemerkte Peter, wie ein zweiter Krieger versuchte, in seinen Rücken zu gelangen. Nur knapp entging er einem Schwerthieb. Jetzt wurde es eng. Der Detective ließ seine offensichtlich nutzlose Waffe fallen, um die Gegner mit gezielten Kung Fu Tritten zu empfangen. Dabei übersah er eine Öllache, rutschte aus und landete unsanft auf dem Boden. Sofort sahen die Krieger ihre Chance und drangen erbarmungslos auf ihn ein. Zwei Schüsse peitschten auf. Erstaunlicherweise erzielten die Kugeln aus Sinclairs Waffe eine gänzlich andere Wirkung, als die aus seiner eigenen. Die beiden getroffenen Skelett-Krieger erstarrten mitten im Angriff, als seien sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Sie brachen augenblicklich in die Knie und fielen vornüber. Noch bevor sie auf dem Boden aufschlugen, zerfielen sie zu Staub. Staunend beobachtete Peter die unwirkliche Szene. Er hatte schon einiges erlebt, aber so etwas noch nie. "Was zum Henker war das denn?", fragte er verdattert, während er sich wieder aufrappelte. "Das waren Dämonenkrieger aus einer anderen Dimension", erklärte Sinclair wie selbstverständlich. Er steckte seine Waffe in das Schulterhalfter zurück und reichte Peter dessen eigene. Der betrachtete seine Beretta nachdenklich. Dann erinnerte er sich plötzlich an die Dämonen in Marilyns Haus und an die speziellen 'Hilfsmittel', die T.J. ihm damals gegeben hatte. Er begann zu verstehen. "Ihre ist mit spezieller Munition geladen? Deshalb konnte ich mit meiner Waffe nichts ausrichten. Was ist es? Silberkugeln?" Sinclair sah ihn überrascht an und nickte. "Sie sind erstaunlich, junger Freund." Er lächelte anerkennend. "Das klingt, als hätten Sie bereits Erfahrung mit übernatürlichen Phänomenen gemacht?" "Das kann man so sagen", entgegnete Peter lediglich. "Aber woher kamen diese Kerle? Und was wollten die von uns?" "Nicht von uns, von mir. Diese Krieger sind die Diener eines chinesischen Dämons namens Sun Long. Er dürfte sie geschickt haben, mir das Buch abzunehmen, das ich in meinem Besitz habe." Er deutete auf den Aktenkoffer, den er selbst während des Kampfes nicht einen Moment aus der Hand gegeben hatte. Dann wies er auf Peters Wagen. "Lassen Sie uns hier verschwinden. Während der Fahrt, erzähle ich ihnen, worum es wirklich geht." *** Peter steuerte den Stealth aus der Garage, während Sinclair den kleinen Lederkoffer öffnete. Aus dem Augenwinkel konnte Peter diverse Gegenstände erkennen. Einen Holzpflock, einige Steine mit seltsamen Zeichen, eine Art silberner Bumerang, eine weitere Beretta, Ersatzmagazine und andere eigenartige Dinge, die er nicht zuordnen konnte. Eines der Magazine und ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Büchlein nahm der Inspektor heraus und schloss den Koffer wieder. "Detective, geben Sie mir Ihre Waffe", forderte ihn der Brite auf. "Soweit ich erkennen konnte, benutzen wir dasselbe Modell. Ich werde zur Sicherheit ein Magazin mit Silberkugeln einsetzen." "Danke, Inspektor. Und nennen Sie mich bitte Peter." Er reichte ihm seine Waffe. "Meinen Sie, es werden noch mehr von diesen Kriegern auftauchen?" "Das kann man nie wissen, Peter. Aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste." Er grinste und gab ihm die Beretta zurück. "Und mein Name ist John. Nur falls Sie das noch nicht wussten." "Also gut, John, raus mit der Sprache. Was läuft hier ab? Was hat es mit diesem Buch auf sich? Warum will dieser Sun Long es unbedingt haben?" Der Detective deutete auf das kleine Büchlein, dessen Einband ein roter Drache zierte. Es war derselbe, den die Dämonenkrieger auf ihrer Rüstung getragen hatten. "Und was ist mit dem anderen Buch? Das, wonach wir suchen?" "Peter, Peter! Bitte eine Frage nach der Anderen", lachte der Inspektor. Doch dann wurde er augenblicklich sehr ernst, als er das kleine Büchlein in die Hand nahm. Fast liebevoll schien er es zu betrachten. Peter bemerkte, dass der ältere Mann schluckte, ehe er mit seiner Erklärung begann. "Also, von Anfang an: Ich bin Mitarbeiter einer kleinen Sondereinheit beim Yard. Wir, das sind mein Partner Suko und ich, beschäftigen uns ausschließlich mit Fällen, die über den Rahmen des Normalen hinausgehen. Sie haben selbst erfahren, dass es Dinge gibt, die außerhalb der Realität der meisten Menschen liegen. "Vor einigen Tagen nun stieß Suko in Soho auf dieses Büchlein. Der Titel ließ vermuten, dass es schwarzmagische Rituale enthielt. Er kaufte es dem Händler ab und fand schnell heraus, zu wessen Beschwörung die Formeln dienten: Sun Long, dem Drachenfürsten. Zu Lebzeiten Kriegsherr eines kleinen unbedeutenden Landstriches, verbündete er sich aus Machtgier mit dunklen Mächten und eroberte sich nach seinem Tod einen festen Platz in der chinesischen Dämonenhierarchie. "Vorgestern, als ich in anderer Angelegenheit unterwegs war, begann Suko alleine die Texte näher zu untersuchen. Dabei muss er versehentlich eine schwarzmagische Falle ausgelöst haben." Sinclair stockte und rang nach Worten. Peter ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen und stellte den Motor ab. Sie hatten Chinatown erreicht. Unweit ihres Parkplatzes verkündete ein Schild die Existenz eines Antiquariats. Dennoch machte keiner der beiden Insassen Anstalten auszusteigen. "Was geschah mit Ihrem Partner? Wurde er... getötet?", fragte Peter mitfühlend. "Nein, viel schlimmer." Sinclair schlug das Büchlein auf und reichte es dem Detective. Nur zögerlich streckte dieser die Hand aus und nahm es entgegen. Seine trainierten Shaolinsinne ließen ihn die dunklen Kräfte des Buches erahnen. Er meinte sogar ein leichtes Vibrieren unter seinen Fingerspitzen zu spüren. "Keine Angst, solange Sie es nicht lesen, kann Ihnen nichts passieren", beruhigte ihn der Inspektor. "Es ist das Bild hier, das Sie sich ansehen sollten." Peter betrachtete die Zeichnung. Eine typische chinesische Landschaftsmalerei. Auf den ersten Blick nichts besonderes. Dennoch schien eine unterschwellige Bedrohung davon auszugehen. Über dem großen Vulkan, der fast die gesamte rechte Hälfte einnahm, stand eine dunkle Aschewolke. Bei genauerem Hinsehen erkannte man auch, dass die Pflanzen ringsum verdorrt waren. Inmitten dieser Ödnis schmiegte sich ein kleiner Tempel an die Flanke des Vulkans. Ein Weg führte von dort in weiten Serpentinen zum Krater hinauf. Auf halbem Weg nach oben sah man vier Krieger und in ihrer Mitte eine gefesselte Gestalt. Unwillkürlich zeichnete Peter den Bergpfad nach. Als sein Finger die kleine Gruppe erreichte, zuckte er zusammen. Das Innere des Wagens verschwand vor seinen Augen und gab Raum für einzelne Bildfragmente. Ein Chinese... er sitzt in einem Büro... liest ein Buch... das kleine schwarze Büchlein... er macht sich Notizen... plötzlich hält er inne... Überraschung macht sich auf seinem Gesicht breit... dann ein grelles Licht... das Büro ist verwaist. - Ein anderer Ort...der Tempel am Fuß des Vulkans... vier Skelett-Krieger...sie führen einen Mann aus dem Gebäude...treiben ihn den Weg zum Krater hinauf...ein Opfer für den Dämonenfürsten...Es ist der Chinese! Schwer atmend kehrte Peter in die Realität zurück und spürte Sinclairs besorgten Blick auf sich ruhen. Langsam gelang es ihm, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Seine Augen wanderten zwischen dem Bild auf seinem Schoß und seinem Beifahrer hin und her. Plötzliches Verstehen setzte ein. "Der Mann auf dem Bild Er ist Ihr Partner, nicht wahr?", flüsterte er entsetzt. "Wie? Woher wissen Sie...?" Sinclairs Augen weiteten sich vor Überraschung, um dann unvermittelt einen verzweifelten Ausdruck anzunehmen. "Ja, das ist Suko. Er ist in dem Buch gefangen", bestätigte er mit hängenden Schultern. Der Shaolin-Cop erkannte, dass die beiden Männer eine tiefe Freundschaft verband, die weit über eine rein berufliche Partnerschaft hinaus ging. Er konnte Sinclairs Schmerz und Verzweiflung beinahe körperlich spüren. "Gibt es denn keinen Weg, ihn zu befreien?", fragte Peter. Erleichtert sah er, wie sich der Brite streckte und Hoffnung sich auf seinem Gesicht abzeichnete. "Ja, den gibt es möglicherweise tatsächlich", erwiderte er. "Genau deshalb bin ich hier. In Sukos Notizen fand ich einen Hinweis auf ein anderes Buch. Es stellt eine Art weißmagischen Gegenpart zu diesem hier dar." Er nahm Peter das schwarze Büchlein aus der Hand und schlug die erste Seite auf. "Hier wird ausdrücklich vor diesem Buch gewarnt, welches sich hier in Chinatown befinden soll." "Wie heißt dieses Buch?" Peter stellte die Frage, obwohl er die Antwort bereits ahnte. "Sie werden es nicht kennen. Man nennt es das Buch von Shambhala." 'Also doch!', dachte Peter. Er seufzte und startete erneut den Motor des Stealth. "Was haben Sie vor? Wohin fahren wir?" Irritiert klappte Sinclair das Büchlein zu und verstaute es wieder in seinem Aktenkoffer. Sein Blick wurde noch verständnisloser, als er Peters Antwort vernahm. "Zu meinem Vater!"
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