Teil 14
Autor: Tigerauge

 

Eben noch schien Kermit scheinbar körperlos über der gläsernen Kuppel zu schweben und im nächsten Moment spürte er wieder festen Boden unter den Füßen. Erstaunt nahm er seine Umgebung in Augenschein. Er und Caine standen inmitten einer weiten Lichtung, die in der Entfernung von dichtem Wald umgeben schien. Einige Meter vor ihnen erhob sich die steinerne Front einer Art Tempel. Zwischen zwei Säulen, die das Vordach trugen, führte eine breite Treppe in wenigen Stufen zum Eingang hinauf.

Durch die Holztür hindurch konnte Kermit schemenhaft Bewegungen wahrnehmen. Er kniff die Augen zu, um besser sehen zu können und seltsamerweise gewann das Bild plötzlich an Schärfe, als habe jemand die Linse eines Fernglases einjustiert. Deutlich erkannte er jetzt, was sich im Inneren verbarg: die Halle der Portale.

Auch die drei Polizisten, die von innen hastig auf das Tor zustrebten, konnte er nun genau ausmachen. Noch während er sich über ihr Verhalten wunderte, bemerkte er den Grund für die offensichtliche Eile. Die massive, hölzerne Tür begann langsam sich zu schließen.

'Was für ein gemeiner Trick ist das jetzt wieder?', überlegte Kermit ärgerlich und verfolgte gereizt die fieberhaften Bemühungen der Männer, den Ausgang zu erreichen. Da allerdings einer der Briten durch eine Verletzung am Bein gehandikapt schien, war es unwahrscheinlich, dass sie es rechtzeitig schaffen würden. Es gab nur eine Lösung: Er und Caine musste den dreien helfen und die Tür offen halten. Kermit zögerte nicht länger. Aus dem Stand sprintete er los.

"Kermit, nicht!"

Caines Warnung kam zu spät. Als der Detective den Ruf vernahm, war es bereits passiert. Mit brummendem Schädel saß er auf seinem Allerwertesten und starrte verdutzt nach vorne. Ungläubig streckte er die Hand aus und ertastete die unsichtbare Wand, die ihn gerade gestoppt hatte.

"Caine, was zum Teufel hat das zu bedeuten?", fluchte er wütend, während er sich wieder aufrappelte.

"Das Tor ist für uns so lange unerreichbar, bis der Erste von ihnen hindurchtritt und die Dimensionen miteinander verbindet", erklärte der Priester mit hängenden Schultern. Auch er schien alles andere als glücklich darüber zu sein. Dennoch machte er keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Nur sein Blick fixierte besorgt die drei Männer.

Zähneknirschend starrte auch Kermit wieder auf das Geschehen im Inneren des Gebäudes. Unfähig einzugreifen, blieb ihm ebenfalls nur die Position des passiven Beobachters.

***

Schnell bot der Geisterjäger Suko seine Schulter als Stütze an und schlang zusätzlich einen Arm um seine Taille. Gemeinsam betraten sie den Pfad und eilten, so schnell es Sukos Verletzung zuließ, auf das Tor zu. Peter schüttelte die Starre ab, die ihn umfangen hielt, und folgte ihnen dicht auf. Die Entfernung zum Portal ließ sich schwer einschätzen, zumal der dunkle, weite Raum nur wenige Anhaltspunkte bot. Dennoch glaubte Peter zu erkennen, dass die anderen Türen im Raum zunehmend verblassten. Gleichzeitig nahm das Abbild ihrer Welt hinter dem vor ihnen liegenden Tor immer klarere Konturen an. Die ersten Sonnenstrahlen kletterten bereits über den Horizont im Hintergrund.

Die letzten Reserven mobilisierend, strebten sie dem Portal zu, während sich das hölzerne Türblatt unerbittlich immer weiter schloss. Schon verdeckte es beinahe die Hälfte der Öffnung und noch lag gut die Hälfte des Weges vor den drei Männern.

Der Shaolin-Cop warf einen besorgten Blick auf seine Gefährten. Um das Tor noch rechtzeitig zu erreichen, mussten sie einen ziemlichen Sprint hinlegen, doch wäre Suko dazu in der Lage? Der Inspektor stützte sich schwer auf die Schulter seines Partners und humpelte mit verbissenem Gesichtsausdruck vorwärts. Sein Bein machte ihm sichtlich zu schaffen, und es schien, als würde John seinen Freund mehr mit sich ziehen, als dass dieser selbst lief. Sollte ihnen Sukos Verletzung schlussendlich noch zum Verhängnis werden?

'Das wird ziemlich knapp', erkannte Peter und überlegte fieberhaft, wie er ihnen noch ein wenig mehr Zeit verschaffen konnte. Das Tor hatte sich nun bereits zu zwei Drittel geschlossen. Er selbst konnte das Tor noch rechtzeitig erreichen, das wusste er. Aber die anderen hier zurücklassen, das kam nicht in Frage. Peter schüttelte energisch den Kopf. Seine Entscheidung stand fest. Notfalls mussten sie eben zu dritt einen anderen Rückweg suchen.

Doch noch war ihnen dieser Ausweg nicht versperrt. "Ich versuche das Tor offen zu halten," rief er seinen Begleitern zu und rannte los. Als er das Portal erreichte, war die Öffnung gerade noch groß genug, dass eine Person hindurchschlüpfen konnte. Peter schob sich in den Spalt, stützte sich am Türstock ab und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Türblatt. Tatsächlich verlangsamte sich dessen Bewegung merklich. Aber würde es ausreichen?

Die beiden Briten beschleunigten abermals ihre Schritte. Doch noch trennten sie mehrere Meter von ihrem Ziel. Schweißperlen bildeten sich auf Peters Stirn. Sein rechter Arm schmerzte unerträglich und sandte Wellen von Übelkeit durch seine Körper. Wie lange konnte er das Tor noch offen halten?

Im selben Moment als Suko und John das Portal erreichten, verließen Peter die Kräfte. Ein quälender Krampf erfasste die Muskulatur seines rechten Armes, der zuckend und kraftlos vom Holz herabrutschte. Vom Gegendruck befreit, schnellte das Tor in einer abrupten Bewegung nach vorne und klemmte Peter ein.

Erschrocken stieß er einen lauten Schrei aus, der alsbald in ein gequältes Wimmern überging. Er fühlte, wie ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. In seinem Bestreben sich zu schließen und das unerwünschte Hindernis zu beseitigen, entwickelte das Türblatt mit einem Mal eine gewaltige Kraft. Vergeblich versuchte sich der junge Cop zu befreien. Der Druck auf seinen Brustkorb wuchs ins Unermessliche. Bunte Punkte tanzten vor seinen Augen. Jede Faser seines Körpers schrie nach Sauerstoff.

'Vorbei! Das war's!', dachte Peter und ergab sich seinem Schicksal.

***

Kermit stand wie festgewurzelt vor der unsichtbaren Wand, die ihn von dem Gebäude und von den drei Männern darin trennte. Starr vor Schrecken wurde er Zeuge von Peters fruchtlosem Versuch die massive Tür aufzuhalten. Der markerschütternde Schrei seines hilflosen Freundes ging ihm durch und durch. Und er löste die Starre, die ihn umfangen hielt. Wutentbrannt warf er sich erneut nach Vorne und... fiel der Länge hin, als der erwartete Widerstand ausblieb.

Der überraschte Detective fand sich am Fuß der Steinstufen liegend wieder. Tatsächlich war die zuvor unüberwindbare Barriere verschwunden. Peter musste die Verbindung zwischen den beiden Realitäten hergestellt haben, als er zur Hälfte durch die Tür geschlüpft war. Doch für Ursachenforschung blieb auch später noch Zeit. Ohne weiter darüber nachzudenken, rappelte sich Kermit rasch wieder auf und sprintete die Stufen hinauf. Kaum hatte er das Portal erreicht, stemmte sich mit aller Kraft von außen gegen die Tür.

Im selben Moment tauchte auch Caine neben ihm auf und tat es ihm gleich. Das Tor gab leicht nach und Peter sog gierig die Luft in seine Lungen. Von innen schoben sich die Hände des Geisterjägers in den Spalt, umklammerten das Holz und zogen daran. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Türblatt soweit zurück zu drücken, dass Peter sich aus der Lücke schieben konnte. Neben dem Türstock sank er schwer atmend und erschöpft zu Boden.

Die drei Männer hielten die Tür weiterhin offen und mit einiger Mühe gelang es Suko, seinen Körper durch den Spalt zu zwängen. Trotz seines verletzten Beines zögerte der Chinese keinen Augenblick und stemmte sich sogleich von außen mit gegen das Tor, so dass sich schließlich auch der Geisterjäger hindurchquetschen konnte.

Kaum hatte John das Portal durchquert, als die Luft um die Männer herum zu flimmern anfing. Einen Herzschlag später fanden sie sich unvermittelt in Caines Loft wieder. Durch das Fenster sandte die soeben aufgegangene Herbstsonne ihre hellen Strahlen in den Meditationsraum und begrüßte sie zurück in ihrer eigenen Welt.

Dankbar und froh musterte Peter die nicht minder erleichterten Gesichter der Anderen: John... Suko... Kermit... und schließlich ruhte sein Blick auf Caine. Der Priester kniete sich neben ihn und strich ihm sanft eine Haarsträhne aus der Stirn. Mit jeder Faser seines malträtierten Körpers nahm Peter die vertraute Essenz seines Vaters in sich auf. Ein zufriedenes, glückliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

"Paps, wir haben es geschafft!"

Caine nickte und väterlicher Stolz spiegelte sich in seinen Augen.

***

Zwei Tage später

In Gedanken versunken stand Peter Caine an der Cafebar in der Halle des Flughafens. Er war noch immer heilfroh, dass er und seine britischen Amtskollegen dieses Abenteuer in der Drachenwelt so gut überstanden hatten. Nun ja, er selbst trug den Arm in der Schlinge, sein Brustkorb schmerzte noch immer bei jedem Atemzug, und Sukos Bein würde dem Inspektor noch einige Tage zu schaffen machen, aber immerhin: Sie hatten überlebt. Tatsächlich heilten ihre Verletzungen dank der kundigen Fürsorge seines Vaters bereits wieder ab. Und eine Schale von Caines berüchtigtem Tee sowie 24 Stunden traumlosen Schlafes hatten Erschöpfung und sonstige Nachwirkungen ihrer Dimensionsreise weitgehend beseitigt.

Eine blecherne Lautsprecherstimme, welche die Passagiere des Fluges 264 nach London aufrief, sich am Gate 3 einzufinden, riss ihn aus seinen Gedanken.

"Nun, dann wollen mal wieder. Der Yard ruft", kommentierte John Sinclair, wobei er seinen Partner Suko auffordernd ansah.

Suko trank sein Wasser aus und ergriff den Stock, den er anstelle einer Krücke benutzte. "Glaubst du, Sir Powell gibt mir 'ne Woche Krankenurlaub?", flachste er und deutete auf seinen Fuß. Unter seiner Hose konnte man den Verband nur erahnen.

"Kaum, ich fürchte eher, nach der Behandlung mit Caines Kräutertinktur, dürfte es dir schwergefallen den Chef zu überzeugen, dass du tatsächlich mit einem Speer Bekanntschaft gemacht hast", stichelte John zurück.

Peter lachte lauthals auf. Wieder spürte er die tiefe Freundschaft, welche die beiden Männer verband und eine unendliche Freude erfüllte ihn, dass es ihnen gelungen war, Suko zurück zu bringen.

"Schade, dass ihr schon nach Hause müsst", stellte er mit Bedauern fest.

"Ja, leider", bestätigte John Sinclair, der Geisterjäger. "ich hätte auch gerne noch mehr Zeit mit euch verbracht. Dein Vater ist ein faszinierender Mann mit erstaunlichen Fähigkeiten."

"Oh, yeah!", antwortete Peter grinsend, indem er den Tonfall seines Freundes Kermit imitierte.

"Wie wäre es, wenn ihr uns mal auf der Insel besucht?", schlug John vor. "Dann zeigen wir euch good old England."

"Und Soho", ergänzte Suko. Die Idee seines Kollegen schien ihm ebenfalls zu gefallen.

"Vielleicht machen wir das, wenn wir das nächste Mal meinen Großvater in Frankreich besuchen. Da liegt London ja quasi auf dem Weg," überlegte Peter lachend. Tatsächlich verspürte er große Lust Europa einmal näher zu erkunden, vor allem nachdem er gestern Abend den beiden Briten und Kermit beim schwärmen über ein bestimmtes Gasthaus an der Themse mit angeblich den hübschsten Frauen, gelauscht hatte. Nun, wer wusste schon, was die Zukunft für sie alle bereit hielt?

"Dein Großvater lebt in Frankreich?" Der Geisterjäger sah ihn überrascht und interessiert zugleich an.

"Ja, in einem kleinen Städtchen namens St. Adéle. Ist 'ne lange Geschichte...", begann Peter zu erzählen.

Doch der erneute Aufruf aus dem Lautsprecher unterbrach ihre Unterhaltung und mahnte zum Aufbruch. Peter begleitete die beiden Briten zum Gate.

John reichte ihm die Hand zum Abschied. "Auf Wiedersehen, mein Freund. Ich weiß zwar inzwischen, dass ihr, du und dein Vater, eure eigenen Methoden habt, die dunkle Mächte zu bekämpfen. Aber solltest du jemals Hilfe brauchen, weißt du wo du uns findest."

Peter nickte dankbar. Dann ergriff er die dargebotenen Hand des Chinesen. Suko, seiner Natur entsprechend kein Freund großer Emotionen, verabschiedete sich lediglich mit einem festen Händedruck. Doch mit dieser Geste drückte er mehr aus, als mit jeder seitenlangen Dankesrede. Peter wusste er hatte ein Freund gewonnen. Nein besser, zwei Freunde.

Er folgte ihnen mit den Augen, als sie die Kontrolle passierten. Bevor sie in der Gangway verschwanden, drehten sich die beiden Geisterjäger ein letztes Mal um.

Peter führte die Hände zum Shaolin-Gruß zusammen und deutete eine Verbeugung an.

ENDE

 

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