Teil 6
Autor: Tigerauge

 

Suko marschierte, eskortiert von vier Drachenkriegern, den Bergpfad hinauf. Versuchsweise verlangsamte der Inspektor seine Schritte. Vielleicht ergab sich eine Möglichkeit zur Flucht, wenn er sich zurückfallen ließ und die Distanz zu den beiden vorderen Bewachern vergrößerte. Doch unverzüglich traf ihn ein schmerzhafter Stoß in den Rücken, der ihn nach vorne taumeln ließ. Dabei drehte er sich halb um die eigene Achse und schoss dem hinter ihm laufenden Dämonenkrieger einen wütenden Blick zu. Nur mit Mühe gelang es ihm sein Gleichgewicht zu halten, und die ihm zugedachte Position wieder einzunehmen.

Sukos Blick fiel auf den Anführer der Truppe und die zwei unscheinbaren Gegenstände an dessen Gürtel, die eigentlich ihm gehörten. Entgegen ihres harmlosen Aussehens, handelte es sich um äußerst wirksame Waffen: der Stab Buddhas, mit dem er für fünf Sekunden die Zeit anhalten konnte, und die Dämonenpeitsche, tödlich für die meisten schwarzblütige Kreaturen. Sie befanden sich direkt vor Sukos Nase, aber für ihn dennoch unerreichbar.

Der Inspektor analysierte seine Situation und musste sich eingestehen, dass sie alles andere als rosig aussah. Was nur schief gehen konnte, war schief gegangen. Das fing schon damit an, dass er die Gefährlichkeit des Buches unterschätzt hatte. Der magische Angriff hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Sogar seine Pistole mit den Silberkugeln lag noch sicher verwahrt in der Schublade in seinem Büro bei Scottland Yard. Zerknirscht rief er sich die Ereignisse, die zu seinem Aufenthalt in dieser Dimension geführt hatten, noch einmal ins Gedächtnis:

Suko griff nach dem Buch mit dem roten Drachenemblem, schlug es auf und begann interessiert darin zu lesen. Hin und wieder schrieb er etwas auf den bereitgelegten Notizblock. Plötzlich spürte er einen harten Ruck, eine unbekannte Macht griff nach ihm. Bevor er reagieren konnte, fühlte er sich in einen Wirbel aus dichtem Nebel gezogen, hinein in eine andere Dimension. Er schien in luftleerem Raum zu schweben, konnte nicht atmen, nichts sehen. Dann hatte er unvermittelt wieder festen Boden unter den Füssen.

Benommen stolperte der Inspektor einen Schritt vor und nahm die fremde Welt um sich herum auf. Zu spät bemerkte er die vier untoten Dämonenkrieger, die mit gezückten Schwertern auf ihn einstürmten. Verzweifelt tastete Suko in seiner Jackentasche nach der Dämonenpeitsche. Kurz vor Erreichen seines Zieles, traf ihn ein Schlag im Nacken und schickte ihn zu Boden. Er verlor zwar nicht das Bewusstsein, aber das Schwert an seiner Kehle überzeugte ihn dennoch davon, seinen Widerstand vorerst aufzugeben. Der Kampf war beendet, ehe er richtig begonnen hatte.

Gefesselt und entwaffnet, glücklicherweise jedoch weitgehend unverletzt, blieb ihm zunächst keine andere Wahl, als sich dem Willen der Drachenkrieger zu beugen und ihnen widerstrebend zu folgen. Vor einem grellbunten Fresko hielten sie inne und demonstrierten ihm unter höhnischem Gelächter, welches Schicksal ihm bevorstand. Eine Gänsehaut lief Suko über den Rücken, als er die Abbildung eingehend betrachtete. Sorgfältig darauf bedacht, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, ertrug er mit stoischer Ruhe ihren Spott. Irgendwann hatten sie genug von diesem Spiel. Die Schergen trieben ihn unbarmherzig über den Hof hinaus aus dem Tempelbezirk und auf einem schmalen Pfad dem Berggipfel entgegen.

Zum wiederholten Male bewegte der Inspektor seine vor dem Körper gebundenen Hände und versuchte die Fesseln zu lockern. Der warnende Laut eines seiner Bewacher ließ ihn in seinen Bemühungen inne halten. Es war zum Verzweifeln. Die knöchernen Kriegergestalten, die ihn flankierten, gaben sich keine Blöße und blieben unverändert wachsam.

Suko sah sich um, in der vagen Hoffnung doch noch eine Möglichkeit zur Flucht zu entdecken. Unbarmherzig zog sich der Pfad bergauf und führte ihn unweigerlich immer näher dem Ziel ihres Marsches, der Opferstätte im Krater, entgegen. Schon erhob sich der gezackte Kraterrand unmittelbar vor ihnen und warf seinen düsteren Schatten auf den Weg, der nun auf einen schmalen Felsspalt zuführte.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend folgte der Inspektor seinen Bewachern durch den tunnelartigen Durchlass. Beim Verlassen des Felsenganges sog sich sein Blick fest an dem schaurigen und zugleich faszinierenden Naturschauspiel. Der See, der einen Großteil des Kraters ausfüllte, begrüßte ihn mit einem feurigen Crescendo. Statt mit Wasser, war er mit brodelnder Lava gefüllt. Unzählige kleine und große Gasblasen stiegen aus den Tiefen des Berges empor und explodierten an der Oberfläche, wobei sie glühende Tropfen in alle Richtungen aussandten. Schwefelig-faulige Dämpfe waberten durch das Kraterinnere und erfüllten die Luft mit einem unerträglichen Gestank.

Suko unterdrückte den aufsteigenden Hustenreiz und wunderte sich, dass er kaum etwas von den eigentlich zu erwartenden extremen Temperaturen spürte. Normalerweise würde ein Mensch in dieser unmittelbaren Nähe zur Lava innerlich verbrennen. Glücklicherweise schien sich in dieser Dimension die Gluthitze auf den Kratersee zu beschränken. Nicht, dass ihn das wirklich beruhigt hätte.

Ein etwa fünfzig Meter breiter, von Felsbrocken übersäter, Uferstreifen umgab diesen Höllenschlund. Direkt vor ihnen am Ufer des Sees entdeckte Suko einen steinerner Altar. Nicht weit davon entfernt, unterhalb eines Felsvorsprungs, befand sich jener eiserne Käfig aus der Abbildung im Tempelraum. Er hing an einem beweglichen Metallgestell, dessen Mechanismus es ermöglichte ihn sowohl am Ufer abzustellen, als auch ihn weit über die brodelnde Oberfläche des Sees hinaus zu befördern.

Suko erschauderte und seine Nackenhaare stellten sich auf, als er nun mit eigenen Augen sah, welches Schicksal man ihm zugedacht hatte. Er straffte sich. Wenn auch waffenlos und durch die Fesseln gehandikapt, so war er doch körperlich fit und konnte auf seine Kenntnisse asiatischer Kampftechniken zurückgreifen. Auf keinen Fall würden er sich widerstandslos in diesen Käfig stecken lassen.

Der Anführer der Eskorte, befahl seinen Kumpanen und dem Gefangenen stehen zu bleiben. Er selbst ging weiter auf den Altarstein zu. Gerne kam der Inspektor dieser Aufforderung nach, bedeutete es doch zunächst noch einen Aufschub für ihn. Außerdem erhöhten sich mit nur mehr drei Bewachern seine Chancen deutlich.

Am Randes des Kratersees angekommen, zog der Drachenkrieger die Waffen des Inspektors aus seinem Gürtel und legte sie auf den Altar. Dann kniete er nieder und stimmte einen unmelodischen, krächzenden Singsang an. Die anderen Krieger stimmten in die Beschwörung mit ein. Ein unauffälliger Seitenblick bewies Suko, dass sie ihn dennoch nicht aus den Augen ließen.

Plötzlich erhob sich ein glühend heißer Wind, fuhr über Suko hinweg und hinterließ ein Gefühl, als habe ihn ein züngelnder Flammenstrahl gestreift. Unwillkürlich betrachtete er seine Haut und entdeckte erschrocken, dass die Härchen auf seinen bloßen Unterarmen tatsächlich versengt waren. Er schluckte trocken.

Ein seltsames Geräusch, wie von den Schwingen eines großen Vogels, ließ ihn zurück zum Ufer blicken. Er entdeckte eine rote, wabernde Nebelwand, aus der gerade eine Gestalt heraustrat. Der Drachenfürst persönlich gab sich endlich die Ehre. Seine hünenhafte Figur materialisierte sich neben dem Altar. Er trug lang wallende Gewänder, deren Farbenpracht seinen Machtanspruch deutlich zur Schau stellten. An seinem Gürtel baumelte eine riesige Streitaxt, auf seinem prunkvollen Lederharnisch prangte das Bildnis eines roten Drachen. Der Zustand seiner Kleider und Waffen stand in krassem Gegensatz zu dem seines Körpers, denn unter dem ledernen Helm starrte ein bleicher Totenschädel hervor, in dessen Augenhöhlen ein rotes, höllisches Feuer loderte.

Sun Longs knöcherne Hand fuhr empor und der ausgestreckte Finger deutete auf Suko. "Wen haben wir denn da?", höhnte er. "Einen kleinen, unbedeutenden Polizisten, der den Wunsch verspürt, mich kennen zu lernen. Oder weshalb sonst hast du mein Buch gelesen?"

"Ich suchte einen Weg, dich zu vernichten", antwortete Suko dem Dämon mit unbewegtem Gesicht.

"Nun, was du gefunden hast, ist der Weg zu deiner Vernichtung." Das hämische Lachen des untoten Kriegsherren erfüllte den Krater. "Und daran werden auch deine Freunde nichts mehr ändern können."

Diese Bemerkung ließ Suko aufhorchen. Seine Gedanken überschlugen sich. Sicherlich würde John nach seinem Verschwinden nichts unversucht lassen, ihn zu finden. Aber war es ihm tatsächlich bereits gelungen, ebenfalls in diese Welt zu gelangen? Oder war er womöglich auch ein Opfer des Drachenfürsten geworden? Unwahrscheinlich, dann hätte Sun Long sich sicherlich mit diesem Sieg gebrüstet. Nein, es gab nur eine logische Erklärung: Hilfe war unterwegs. Suko versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

Dennoch schien der Drachenfürst mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, denn seine Fratze verzog sich zu einem boshaftes Grinsen. "Mach' dir keine falschen Hoffnungen, Mensch. Sie können dir nicht mehr helfen. Die Nacht bricht bereits an. Die Zeit des Opfers ist gekommen." Nach einem prüfenden Blick gen Himmel sah er Suko triumphierend an. "Du wirst in dem Bewusstsein sterben, dass die Rettung nur wenige Augenblicke entfernt ist. Und deine Freunde werden an der Tatsache, dass sie versagt haben, zerbrechen. Dann werde ich auch sie vernichten." Er gab seinen Dienern einen Wink. "Der Drache wartet. Bringt ihn in den Käfig!"

Diese Worte wirkten auf Suko wie eine Initialzündung. Er flog herum, traf zwei seiner Bewacher mit dem ausgestreckten Fuß, so dass sie mehrere Schritte zurücktaumelten. Der Dritte stand dem Kraterausgang am nächsten und versperrte ihm so den Fluchtweg. Der Inspektor visierte ihn an, sprang ihm mit beiden Beinen voll gegen den Oberkörper und warf ihn zu Boden. Gekonnt landete er auf seinen Füßen und sprintete los. Wenn er erst einmal den Bergpfad erreicht hatte, würde er dort sicher irgendwo mit John zusammen treffen.

Plötzlich schoss ein rasender Schmerz durch Sukos linkes Bein. Ein Speer bohrte sich gnadenlos in seine Wade. Unfähig sein Gewicht länger zu tragen, knickte der Fuß unter ihm weg. Es gelang dem Inspektor sich im letzten Augenblick mit den gefesselten Händen abzustützen, damit er sich nicht auch noch den Kopf anschlug. Wütend unterdrückte er einen Fluch. Wieso hatte er nicht mehr an die Wurfwaffe dieses Drachenkriegers gedacht? Mühsam wälzte er sich herum und sah sich zum zweiten Mal an diesem Tag auf seine Brust gerichteten Schwertern gegenüber.

Eine der Horrorgestalten beugte sich zu ihm herab und zog mit einem gehässigen Grinsen den Speer in Zeitlupentempo aus seinem Bein, so als wolle er Sukos Qual mit Absicht verlängern. Der Inspektor biss sich auf die Lippen, bemüht einen gepeinigten Aufschrei zu unterdrücken. Rote Punkte tanzten vor seinen Augen und machten es ihm unmöglich, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, geschweige denn zu atmen. Hilflos musste er die grausame Tortur über sich ergehen lassen. Zu seiner großen Erleichterung und auch Erstaunen sank der Schmerz schnell auf ein erträgliches Maß herab, nachdem der Speer nun aus seiner Wade entfernt worden war, so dass er sich wieder einigermaßen auf die Geschehnisse um sich herum konzentrieren konnte.

Der Kreis der dämonischen Krieger öffnete sich langsam und gewährte ihrem Herren Zugang zu seinem Opfer.

"Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?" Sun Longs Stimme triefte vor Spott.

Die flackernden Flammen in seinen Augen starrten auf Suko herab und brannten sich in sein Gehirn. Jeglicher Gedanke an Flucht schien auf einmal wie weggeblasen. Willenlos und noch leicht benommen von der gerade erlittenen Folter, ließ sich der Inspektor hochziehen, zu dem Käfig schleifen und hineinschieben. Erst als die eiserne Tür mit einem in den Ohren schmerzenden Quietschen ins Schloss fiel, erwachte er aus dem Bann des Drachenfürsten. Zu spät. Alles Rütteln an den Gitterstäben erwies sich als nutzlos. Es gab kein Entkommen mehr. Einer der Krieger setzte die Winde auf dem Felsvorsprung in Bewegung und Zentimeter für Zentimeter erhob sich der stabile Käfig in die Luft.

Mit schonungsloser Klarheit erkannte der Inspektor, dass er verloren hatte. Lähmendes Entsetzen und Panik drohten ihn zu überwältigen, als er mit dem Käfig langsam, weiter und weiter hinaus schwebte, auf die Mitte des brodelnden Höllenschlundes zu. Jetzt plötzlich spürte er auch die unerträgliche Hitze, die von der Glut aus flüssigem Gestein aufstieg und ihn zu versengen drohte. Die heißen, schwefelhaltigen Dämpfe raubten ihm den Atem.

Suko warf einen letzten Blick zum Kratereingang hin, doch von John war weit und breit nichts zu sehen. Resignierend schloss er die Augen und wappnete sich innerlich für das Unvermeidliche. Wie aus weiter Ferne vernahm er Sun Longs Befehl.

"Übergebt ihn dem Drachen!"

Im selben Moment spürte er, wie sich der Gitterboden unter ihm öffnete und er den Halt verloren.

 

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