John stand auf der Terrasse und sah über das Lichtermeer von Chinatown. Inzwischen hatte die Dunkelheit Einzug gehalten und die Geräusche der abendlichen Stadt drangen gedämpft zu ihm herauf. Er drehte sich um und musterte durch die offene Glastür den grauhaarigen Priester, der am Boden saß und meditierte. Es erstaunte ihn sehr, was dieser Mann scheinbar mit bloßen Händen bewirken konnte. Der Geisterjäger hatte immer wieder Menschen getroffen, die sich dem Kampf gegen die dunklen Mächte verschrieben hatten. Professor Zamorra, Tony Ballard oder Damona King waren Namen, die ihm in diesem Zusammenhang auf Anhieb einfielen. Aber sie alle besaßen, wie er selbst, besondere Waffen, die ihnen diesen Kampf ermöglichten. Anders der Shaolin. Er hatte die Macht des Buches ohne sichtbare Hilfsmittel, allein mit der Kraft seines Geistes, gebrochen. John hatte schon von den besonderen Fähigkeiten gehört, die einige buddhistischen Mönche nach jahrelangem Training entwickelten, tatsächlich erlebt hatte er es bis heute jedoch noch nie. Seine Überlegungen wanderten weiter zu Peter, der von sich behauptete, er sei ein Shaolin-Cop - was auch immer das heißen mochte. Wenn der junge Mann auch nur einen Teil der Fähigkeiten seines Vaters besaß, dann würde es ihnen vielleicht wirklich gelingen, Suko zu befreien. Angst umklammerte Johns Herz, als er an das Schicksal seines Freundes dachte. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Als habe er die wachsende Unruhe des Geisterjägers gespürt, erwachte der Priester aus seiner Starre, erhob sich mit einer kraftvollen Bewegung und trat zu ihm auf die Dachterrasse. "Er darf sich glücklich schätzen, Sie zum Freund zu haben", merkte Caine an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Dankbar nahm John die Wärme der Berührung in sich auf und spürte wie sein innerer Aufruhr sich langsam legte. "Wie geht es nun weiter?", fragte er neugierig. "Es ist Zeit für den nächsten Schritt", erwiderte der Priester und bat ihn das Büchlein zu holen. John wollte eben seinen Einsatzkoffer wieder schließen, als sein Blick auf den silbernen Bumerang fiel. Einer Eingebung folgend, steckte er die Waffe in den Hosenbund, klappte den Koffer zu, verriegelte ihn und folgte Caine in den Nebenraum, wo Peter soeben seine Meditation beendete. Froh, dass das Warten ein Ende hatte, ließ er seinen Blick durch den spärlich erleuchteten Raum gleiten. Der kleine Altar, umrahmt von flackernden Kerzen, verbreitete eine geheimnisvolle, aber angenehme Atmosphäre. Der Geisterjäger spürte die positive Energie, die von der kleinen goldenen Statue ausging und, obwohl er dem christlichen Glauben näher stand, begrüßte er die Geborgenheit, die dieses Heiligtum ausstrahlte. Er fühlte seine eigene Stärke und die Bereitschaft, die bevorstehende Herausforderung anzunehmen wuchs mit jeder Minute. Das Wohlergehen seines besten Freundes stand auf dem Spiel und er würde nichts unversucht lassen, ihn zu retten, selbst wenn der Weg dahin noch so unglaublich wäre. Die Erfahrung hatte in gelehrt, diesen Begriff aus seinem Wortschatz zu verbannen. Gespannt harrte er der weiteren Entwicklung der Dinge. Peter beendete seine Vorbereitungen, indem er vor den Schrein trat, ein Räucherstäbchen entzündete und sich anschließend leicht vor der goldenen Figur verneigte. Dann wandte er sich den beiden Männern zu, die soeben den Raum betreten hatten. "Ich bin bereit, Vater", erklärte er mit fester Stimme. "Was machen wir jetzt?" "Das Buch von Shambhala wird uns den Weg weisen", erwiderte der Shaolin und ging auf die flache Truhe zu, die in der Nähe des Schreines stand. "Dann ist es hier!", stellte Peter fest und fügte, als er Johns fragenden Blick auffing, erklärend hinzu: "Das Buch befindet sich normalerweise nicht im Besitz meines Vaters." Caine nickte, während er einen hölzernen, mit Schnitzereien versehenen Kasten aus dem Möbelstück hervorholte, dessen Deckel wieder schloss und die Schatulle darauf ablegte. "Der Ehrwürdige bat mich heute morgen, es für ein paar Tage in Verwahrung zu nehmen." 'Wie praktisch', dachte Peter nicht wirklich überrascht. Innerlich lächelnd über die Weisheit des alten Mannes, fragte er sich, ob es überhaupt irgendetwas gab, das Lo Si nicht vorausahnte. Unterdessen betätigte sein Vater den Mechanismus des Geheimfaches und die versteckte Schublade glitt geräuschlos an der Seite des Kastens heraus. Das Peter inzwischen wohlvertraute, große, weiße Buch in der Hand, ließ sich Caine in der Mitte des Raumes nieder und bedeutete den anderen, es ihm gleich zu tun. Die beiden Männer setzten sich ebenfalls mit gekreuzten Beinen auf die Matte, so dass sie einen kleinen Kreis bildeten. Peter warf einen Blick auf John, der wie gebannt das Buch mit dem sonnenartigen Symbol Shambhalas betrachtete. Er schien sie auch zu spüren, die seltsame Anziehungskraft, die davon ausging. Aber Peter wusste außerdem, dass es mit Vorsicht behandelt werden musste und für Uneingeweihte durchaus gefährlich sein konnte, denn es diente auch als Portal in andere Dimensionen. Er erinnerte sich an die Warnungen, die man ihnen als Kinder im Tempel eingeschärft hatte. Trotzdem hatten er und seine Freunde sich einmal in jenen Raum mit den Büchern geschlichen und waren glücklicherweise nicht erwischt worden. Beim flüchtigen Durchblättern damals hatte Peter bemerkt, dass die Texte in chinesischen, zum Teil aber auch in ihm völlig unbekannten, Schriftzeichen geschrieben waren. Einige Seiten wiesen sogar seltsamerweise überhaupt keine Daten auf und waren komplett weiß. "Wie finden wir heraus, wo genau wir nach Hinweisen auf den Dämonenfürsten suchen müssen?", erkundigte sich Peter, denn immerhin bestand das Buch aus mehreren hundert Seiten. "Das Buch wird sich dem Sohn des Lichtes offenbaren", erklärte Caine wie selbstverständlich, seinen Blick auf den Geisterjäger gerichtet. Er deutete auf dessen Brust. "Sie tragen etwas bei sich, das sie als Kämpfer des Guten ausweist." Verständnislos starrte Peter erst seinen Vater, dann den Inspektor an. Dieser hingegen schien genau zu verstehen, was der Shaolin meinte und nickte in stummem Einverständnis. Mit einer geübten Handbewegung zog er an der Kette um seinen Hals und holte ein handtellergroßes, silbernes Kreuz unter seinem Hemd hervor, das er auf seine Handfläche legte. Fasziniert bestaunte Peter das überaus kunstvoll gearbeitete Artefakt. Das tanzende Licht der Kerzen tauchte es in ein mystisches Licht und ließ die zahlreichen Schriftzeichen und Symbole, die seine Oberseite zierten, lebendig erscheinen. Auf jeder der vier gerundeten Ecken prangten ein anderer Buchstaben: M, G, R, U. Was mochte es mit dem Kreuz auf sich haben? Nur mühsam widerstand der Detective dem Drang es zu berühren. Stattdessen warf er dem Besitzer einen fragenden Blick zu. Bereitwillig gab der Geisterjäger Auskunft: "Dieses Kreuz wurde einst erschaffen vom Propheten Hesekiel für den Sohn des Lichtes. Es vereinigt die Magien der verschiedenen Kulturkreise und ist eine mächtige, wenn auch nicht allmächtige, Waffe im Kampf gegen das Böse. Über die Jahrhunderte hinweg diente es in der Hand vieler großer Männer dem Guten, bis es vor vielen Jahren endlich seinen Weg zu mir fand. Ich bin sein letzter Träger und der Sohn des Lichtes." Peter begann endlich zu verstehen, warum sein Vater den Briten so ehrfürchtig begrüßt hatte. Natürlich hatte Caine das Alles von Anfang an gewusst oder zumindest geahnt. Nur er selbst hatte es wieder mal nicht geschafft, hinter die Fassade des Offensichtlichen zu blicken. Dass John kein einfacher Polizist war, wusste er spätestens seit ihrem Zusammentreffen mit den Geisterkriegern. Dass John aber tatsächlich vom Schicksal ausersehen war, die dunklen Mächte in vorderster Front zu bekämpfen, genau so wie sein Vater, der Shambhala-Meister, dämmerte ihm erst jetzt. Gespannt verfolgte Peter, wie Caine das Buch von Shambhala vor den Inspektor legte und ihn anwies, es zu öffnen. "Auf welcher Seite?", wollte John wissen. "Jede Seite, die Sie wählen, wird die richtige sein", antwortete der Priester. Der Geisterjäger atmete einmal tief durch. Sein Kreuz noch immer in der einen Hand haltend, strich er mit der anderen leicht über den Leineneinband des Buches. Das Sonnensymbol schien schwach aufzuleuchten, aber vielleicht handelte es sich auch nur um eine Reflexion des Kerzenlichtes. Entschlossen hob er den Buchdeckel an und schlug wahllos eine Seite irgendwo in der Mitte auf. Er starrte auf das Buch und schüttelte irritiert den Kopf. Er kniff die Augen zu, um dann erneut die Seite zu betrachten. Verständnislos fragte er sich, was das weiße, unbeschriebene Blatt vor ihm wohl bedeuten mochte. Hatte das Buch ihn nicht erkannt? Hatte er etwas falsch gemacht? Oder war die ganze Sache doch nur ein Schuss in den Ofen? "Sie müssen die Seite mit Ihrem Kreuz berühren!" Caines leise Anweisung unterbrach seinen Gedankengang. 'Nun gut, schaden kann es auf keinen Fall', seufzte er innerlich, den beginnenden Argwohn herunterschluckend. Vorsichtig streckte er die Hand aus, so dass das Kreuz wenige Zentimeter über dem Buch baumelte. Langsam senkte er es herab, bis es in der Mitte des blanken Papiers zur Ruhe kam. Zunächst passierte nichts. Dann jedoch strahlte die heilige Silbe AUM auf dem rechten Balken des Kreuzes unvermittelt hell auf und hüllte das Buch in ein weiches silbriges Licht. Wie von Geisterhand erschienen Schriftzeichen auf der zuvor leeren Seite, gerade so, als ob jemand den Text just in diesem Moment niederschrieb. Weiter unten auf der Seite entstand eine Zeichnung, die zwei nebeneinander liegende, geöffnete Bücher zeigte. Johns Kreuz, dessen obere Hälfte auf dem Buch von Shambhala ruhte und dessen unteres Ende in das Abbild des Drachenreiches aus Sun Longs Buch hineinragte, stellte die Verbindung zwischen beiden her. Nach wenigen Augenblicke erlosch das Leuchten und John sog hörbar die Luft ein. Erst jetzt bemerkte er, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Auch Peter neben ihm unterdrückte einen erstaunten Ausruf, als der Geisterjäger sein Kreuz wieder anhob und dabei den Blick freigab auf eine weitere Zeichnung: Ein exaktes Abbild des Kreuzes, um dessen unteren Balken sich allerdings ein roter Drache wand - unzweifelhaft eine Anspielung auf die bevorstehende Konfrontation. Neugierig wandte John seine Aufmerksamkeit dem Text zu und stellte fest, dass er ihn problemlos entziffern konnte, denn erstaunlicherweise war er in Englisch verfasst. Er begann den Inhalt zu überfliegen, hielt dann jedoch inne. Vermutlich waren Peter und Caine genauso gespannt darauf zu erfahren, was dort nunmehr geschrieben stand. Also beschloss er laut zu lesen: "An Samhain, in der Nacht der Seelen, treten der Sohn des Lichtes und der Jüngste der Linie Caine eine Reise in das Reich des Drachenfürsten an, auf der Suche nach demjenigen, der den Stab Buddhas trägt. Das Kreuz von Hesekiel und die Bücher von Shambhala und Sun Long öffnen das Portal, das nur in dieser einen Nacht Zugang in jene Dimension gewährt. Beim ersten Licht der Morgensonne schließt es sich wieder - für immer.'" Angespannte Stille setzte ein, als John verstummte. Froh über die Gewissheit, dass Sukos Rettung möglich sei, erlaubte sich der Geisterjäger einen hoffnungsvollen Blick in die Runde. Caine saß unbewegt an seinem Platz und lächelte ihm aufmunternd zu, während man Peter förmlich ansah, wie die Gedanken in seinem Kopf herumwirbelten. Nur mühsam gelang es dem Detective seine Finger ruhig zu halten, um sich nicht wie üblich mit der Hand durch das Haar zu fahren. Er versuchte Ordnung und Sinn in das Gehörte zu bringen. Soviel leuchtete ihm ein: John und er würden tatsächlich mit Hilfe der Bücher in Sun Longs Dimension reisen. Derartige Reisen stellten inzwischen nichts Neues mehr für ihn dar. Einige Male schon hatte er seinen Vater mehr oder weniger freiwillig dabei begleitet. Und mit der Unterstützung des Shambhala-Meisters konnte es auch nicht allzu schwierig werden, Suko zu befreien. "Ich werde euch nicht begleiten", durchbrach Caine die Stille und zerstörte Peters hoffnungsvolle Überlegungen. "Wieso nicht? Das kannst du nicht machen. Wir brauchen dich!" Er fühlte sich, wie vor den Kopf geschlagen. Wie konnte sein Vater sie bei dieser Sache einfach im Stich lassen? "Es ist mir nicht möglich, dieses Tor zu passieren. Nur euch beiden ist es bestimmt, den Drachenfürsten zu stellen", erklärte Caine in sachlichem Tonfall, dennoch glaubte Peter zu erkennen, dass leichtes Bedauern oder gar Besorgnis in seiner Stimme mitschwang. "Ich werde euer Anker in unserer Realität sein." Mit diesen Worten streifte der Priester das Amulett, das er einst vom Dalai Lama erhalten hatte und seither immer um den Hals trug, ab und reichte es Peter. "Dies wird euch helfen, den Weg zurück zu finden." Peter sah seinen Vater dankbar an. Wie hatte er nur an ihm zweifeln können? Was er tat, war wie immer wohldurchdacht. Beinahe zärtlich fuhr er mit dem Finger über die runde Jadescheibe, ehe er sich das Amulett um den Hals hängte. Aber eine weitere Frage schwirrte noch in seinem Kopf herum. "Was hat es mit diesem Samhain und der Nacht der Seelen auf sich, Paps?" "Die Nacht der Seelen, bei den Kelten auch Samhain genannt, symbolisiert das Ende des Sommers und läutet die dunkle Jahreszeit des Winters ein. Sie fällt auf die Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, den Zeitraum, der bei uns als Halloween gefeiert wird. In dieser Nacht kommen sich die Dimensionen der Menschen und Geister so nahe, dass die Grenzen durchlässig werden", erklärte John anstelle des Shaolin. "Weshalb es auch nur zu genau diesem Zeitpunk möglich ist, das Portal in das Reich Sun Longs zu öffnen - und darum schließt es sich auch unweigerlich wieder bei Morgengrauen", fügte Caine hinzu. "Und was passiert, wenn wir nicht zurück sind, bevor das Tor sich schließt?", fragte Peter nervös. Er spürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. "Dann seid ihr auf immer in der dunklen Dimension gefangen!", bestätigte der Shambhala-Meister seine Befürchtungen. Unwillkürlich sah Peter auf seine Armbanduhr, die inzwischen kurz vor Mitternacht anzeigte. "Dann sollten wir zusehen, dass wir dieses Portal endlich aufmachen", verlangte er erregt. "Wir wissen schließlich nicht, was uns dort noch alles erwartet und die Zeit läuft gegen uns."
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