John Sinclair blickte sich prüfend um, während er aus dem Wagen stieg, den Peter hinter einem roten Backsteingebäude abgestellt hatte. Die Abenddämmerung setzte bereits ein und die Gegend hier machte keinen sonderlich vertrauenserweckenden Eindruck. Auch das Gebäude, auf das sie nun zusteuerten, wirkte eher verlassenen. Der Inspektor fragte sich, was sie hier wohl wollten. Während der kurzen Fahrt hierher hatte Peter ihm lediglich erklärt sein Vater sei ein Shaolin-Priester und angedeutet er könne ihnen vermutlich helfen. Angespannt eilte der Geisterjäger hinter dem Detective die Treppe hinauf. Im dritten Stock angekommen, rief Peter: "Paps, bist du da?", und betrat, ohne eine Antwort abzuwarten, den Korridor eines Lofts. Sinclair folgte ihm dichtauf. "Ich bin hier, mein Sohn!", erklang eine sonore Stimme aus einem der angrenzenden Räume. Während Peter auf einen grauhaarigen Mann mit eher europäischen Zügen zusteuerte und aufgeregt begann, von den jüngsten Ereignissen zu berichten, blieb John erstaunt in der Türöffnung stehen. Sein Blick wanderte über die Regale und den Arbeitstisch, die voller Tiegel und Töpfe standen, und glitt dann über die vielen, teils exotischen Pflanzen. Das einzige 'normale' Mobiliar stellte ein einzelner, kleiner, runder Tisch mit zwei Stühlen dar. 'Ein seltsamer Ort für einen Priester', überlegte der Geisterjäger. Er hatte eigentlich eine Art Tempel erwartet, nicht ein altes, spärlich eingerichtetes Fabrikgebäude. "Ich habe lange Jahre in einem Tempel gelebt, bis dieser zerstört wurde. Derzeit bin ich nur mehr der Apotheker dieser Gemeinde." Die Erwiderung auf seinen unausgesprochenen Gedanken riss den Inspektor aus seiner Betrachtung. Irritiert sah er Vater und Sohn an und merkte erst jetzt, dass Peter seinen Bericht beendet hatte. Der Priester, er mochte so an die sechzig sein, musterte ihn eingehend. "Paps, das ist Oberinspektor John Sinclair aus London. John, das ist mein Vater, Kwai Chang Caine", stellte Peter die beiden Männer einander vor. Verlegen näherte John sich dem älteren Mann und verneigte sich leicht, um ihm, der chinesischen Tradition entsprechend, seine Ehrerbietung zu erweisen. Der Priester honorierte die Geste mit einem erfreuten Lächeln. Dann verbeugte er sich, zur Überraschung des Geisterjägers, nun seinerseits vor ihm. Dabei führte er die Hände vor der Brust zu einem Grußzeichen zusammen, wobei die Innenseite der einen die zur Faust geballten Finger der anderen umschlossen. "Es ist mir eine Ehre, einen großen Krieger des Lichtes in meinem bescheidenen Heim willkommen zu heißen", begrüßte ihn der Shaolin. Verwundert fixierte John den Priester, und versuchte in dessen Augen zu lesen. Konnte er wissen, dass man ihn auch den Sohn des Lichts nannte? Wie war das möglich? Er fühlte, wie ihm der Blick seines Gegenübers durch und durch ging und bis in die Tiefen seiner Seele tauchte. Der Geisterjäger sog scharf die Luft ein, als er sich plötzlich in einem Strudel fremder Gedanken und Bilder wiederfand. Erstaunlicherweise verspürte er keine Angst. Im Gegenteil! Er empfand eine angenehme Vertrautheit und erkannte mit einem Mal, dass diese seltsamen Emissionen von dem Priester ausgingen. Auf diese Weise gewährte dieser ihm einen flüchtigen Blick in sein Inneres und übermittelte ihm einen Teil des uralten Wissens, über das er verfügte. Einen Augenblick später kehrte John unvermittelt in die Gegenwart zurück und studierte sein Gegenüber eingehend. Dieser Mann stellte eindeutig mehr dar, als nur einen einfachen Heilkundigen. Viel mehr! Und er begriff, warum sie einander so verbunden schienen, obwohl sie sich nie zuvor gesehen hatten. Beide waren sie Kämpfer des Lichtes - und das seit Generationen. "Die Ehre ist ganz meinerseits, Meister!", erwiderte der Brite tief berührt.
"Wenn ihr mit eurer Begrüßung fertig seid, könnten wir uns vielleicht wieder den aktuellen Problemen zuwenden", bemerkte der Detective wie beiläufig. Gleich darauf biss er sich auf die Lippe, als er den tadelnden Blick seines Vaters auffing. Caine wandte sich wieder ihrem Gast zu. "Mein Sohn und ich, wir werden Ihnen helfen." Er bedeutete dem Inspektor mit einer Handbewegung, an dem kleinen Tischchen Platz zu nehmen, doch dieser lehnte dankend ab. Caine zuckte mit den Achseln, begab sich kommentarlos an den Arbeitstisch und begann damit, einige Kräuter in einem Mörser zu zerkleinern. Peter trat auf die andere Seite des Tisches und sah ihm einen Moment lang zu. Warum konnte sein Vater nicht einmal erklären, was er vorhatte, ohne dass man ihn darauf ansprach? "Paps, was machst du da? Wir brauchen das Buch von Shambhala, nicht irgendwelche Kräuter. Wenn Johns Informationen stimmen, gibt es uns vielleicht einen Hinweis, wie wir Suko retten können", drängte der junge Cop. "Peter hat Recht, wir sollten keine Zeit verlieren", kam ihm Sinclair zur Hilfe. "Die sorgfältige Vorbereitung auf eine Aufgabe ist niemals verlorene Zeit", entgegnete Caine in ruhigem aber bestimmtem Ton, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Erneut wies er auf die Stühle, während er die fertige Kräutermischung auf zwei Schalen aufteilte und mit heißem Wasser übergoss. Widerstrebend fügten sich die beiden Polizisten und setzten sich an den kleinen Tisch. Peter sah den Inspektor entschuldigend an. Deutlich konnte er die Besorgnis im Gesicht seines Gegenübers ablesen. Und er teilte sie. Die Bilder seiner Vision waren ihm noch lebhaft in Erinnerung. Er holte tief Luft, ehe er mit belegter Stimme erklärte: "Wir müssen ihm helfen, Paps. Und zwar schnell. Er soll... sie wollen ihn dem Drachenfürsten opfern." "Wen? Suko? Woher weißt du...?", fragte der Brite ungläubig. Unsicher, wie der Inspektor auf seine besondere Fähigkeit, manchmal Dinge zu sehen, reagieren würde, senkte Peter verlegen den Kopf. "Du hattest eine Vision?" Caine war unbemerkt neben seinen Sohn getreten und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. "Ja, vorhin im Auto, als ich das Bild in dem Buch berührte", bestätigte Peter leise. Caine lächelte ihn verständnisvoll an, während seine Finger unter Peters Kinn wanderten und ihn sanft zwangen, ihm in die Augen zu sehen. "Ich teile deine Sorge, Peter, dennoch musst du dich in Geduld üben. Ihr werdet all eure Kräfte benötigen, um diese Herausforderung zu bestehen." Zerknirscht erkannte Peter, dass sein Vater wie immer Recht hatte. Es brachte ihnen absolut nichts ein, wenn sie kopflos voranpreschten. Er musste seine innere Unruhe besiegen und seine Gefühle unter Kontrolle bringen. "Vielleicht sollte ich ein wenig meditieren?", überlegte er laut. "Das scheint mir eine sinnvolle Maßnahme zu sein, mein Sohn." Der Shambhala Meister nickte wohlwollend. Dann nahm er eine der Schalen mit dem nunmehr fertigen Kräutersud und reichte sie ihm. "Trink das, es wird dein Chi stärken." Vorsichtig sog Peter den aufsteigenden Dampf ein und stellte erstaunt fest, dass das Gebräu ganz annehmbar roch. Bereitwillig trank er den Tee in einem Zug aus. Als er die leere Schale vor sich abstellte, deutete Caine in Richtung des Nebenraumes. "Du kannst hinübergehen. Es ist alles vorbereitet."
"Meditation scheint mir eine eher ungewöhnliche Polizeimaßnahme zu sein", bemerkte Sinclair, während Peter aufstand und sich anschickte den Raum zu verlassen. "Nun, für mich nicht mehr. Ich bin eben ein Shaolin-Cop", erwiderte Peter grinsend und begab sich ins Nebenzimmer. John erhob sich ebenfalls, um ihm zu folgen, doch Caine hielt ihn mit einem Kopfschütteln zurück. "Mein Sohn muss sich alleine auf diese Reise vorbereiten." "Reise?" John sah den Priester verständnislos an. Dann begriff er und Hoffnung keimte in ihm auf. "Sie meinen, es gibt eine Möglichkeit Suko zu befreien, Meister Caine?" "Es gibt immer einen Weg!" Der Shaolin nickte. "Und nennen Sie mich einfach Caine." Dann reichte er John die andere Schale mit Kräutertee. "Aber zunächst müssen Sie das trinken. Es wird auch Ihr Chi, das heißt die Kräfte Ihres Körpers und Ihres Geistes, stärken." John zögerte kurz, erinnerte sich jedoch, dass Peter den Sud kommentarlos akzeptiert hatte. Also beschloss er, es ihm nach zu tun und leerte die Schale bis auf den letzten Tropfen. Der Aufguss schmeckt leicht bitter, aber nicht unangenehm. Ein bisschen wie abgestandener, ungesüßter, schwarzer Tee. Eine unmittelbare Wirkung verspürte er keine. Außer vielleicht, dass die durch den Flug und die Zeitverschiebung bedingte Müdigkeit plötzlich verschwand. Irgendwie fühlte er sich erfrischt. "Wie finden wir diesen Weg?", fragte der Geisterjäger den Priester voller Tatendrang, als er die Porzellanschale vorsichtig auf dem Tisch vor sich abstellte. "Das Buch von Shambhala weist dem, der dem Licht dient, den Weg.", erklärte Caine und ließ sich auf dem nunmehr freien Stuhl nieder. "Lassen Sie mich aber zunächst einen Blick auf das Büchlein werfen, von dem Peter sprach." John öffnete seinen Einsatzkoffer, entnahm ihm das Buch und reichte es seinem Gegenüber. "Caine, ich muss Sie warnen. Sie dürfen nicht darin lesen. Das Buch scheint mit einem schwarzmagischen Bann belegt zu sein, der meinen Partner in die Dimension des Drachenfürsten schleuderte." "Ich werde vorsichtig sein", versprach der Priester, und nahm das Buch ohne zu zögern entgegen. Kaum hielt er es jedoch in der Hand, da glühte das Drachenemblem auf dem Einband rot auf und Caine ließ das Buch fallen, als habe er sich verbrannt. John sprang erschrocken auf. Augenblicklich erwärmte sich auch das Kreuz unter seinem Hemd und seine Hand legte sich unwillkürlich an die entsprechende Stelle auf seiner Brust. Mit einer derartigen Reaktion hatte der Geisterjäger nicht gerechnet. Er selbst und Peter hatten das Buch problemlos berührt, wieso nicht Caine? "Was ist passiert? Haben Sie sich verletzt?", fragte er besorgt. "Es geht mir gut." Der Priester atmete heftig, aber er schien unversehrt. "Das Buch spürt meine Verbindung zu Shambhala. Deshalb reagierte es so heftig. Es will verhindern, dass wir es für unsere Zwecke nutzen. Ich werde versuchen, den Bann zu brechen, ohne dabei das Buch zu zerstören. Andernfalls wäre die Verbindung zu Ihrem Freund unweigerlich verloren." John beobachtete, wie Caine seinen Stuhl verließ und sich mit einer fließenden Bewegung im Lotussitz neben das Buch auf den Boden setzte. Dabei schien er sorgsam darauf bedacht, es nicht zu berühren. Dennoch reagierte das Buch sofort auf seine Annäherung, denn das Glühen des Drachensymbols verstärkte sich. Caine schloss die Augen und einige Augenblicke lang passierte gar nichts. Dann hob der Shaolin die Hände an und führte die Handflächen in einigem Abstand über das Buch. Augenblicklich wurde das Glühen zu einem Gleißen. Der Drache schien in Flammen zu stehen und löste sich vom Buchdeckel. Er verharrte in der Luft, bereit den Priester anzugreifen. Im selben Moment umhüllte ein heller Schimmer Caines Hände und mit einer kaum wahrnehmbaren, blitzschnellen Bewegung packte er den Drachen. In einem Funkenregen verglühte das Abbild des Dämons in Caines Händen. Das Leuchten verschwand und Caine öffnete die Augen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und John erkannte, dass ihm diese kurz Auseinandersetzung enorm viel Kraft gekostet haben musste. "Sind Sie okay?" Caine nickte und erklärte: "Der Bann ist gebrochen." John beugte sich herab und betrachtete das nun wieder völlig normal aussehende Büchlein. Vorsichtig streckte er die Hand aus und ließ seine Finger über den Ledereinband gleiten. Das rote Drachenemblem war verschwunden, als habe es nie existiert. Vor ihm lag ein unscheinbares, schwarzes Buch. Der Priester wies den Inspektor an, es wieder an sich zu nehmen und sicher zu verwahren, da sie es später benötigen würden. Dann bat er um Verständnis, dass er eine kurze Zeit bräuchte, sich zu regenerieren und schloss an Ort und Stelle erneut die Augen. John hatte keine Ahnung was genau der Priester damit meinte, aber er vertraute ihm. Momentan, so stellte er fest, war er zum Statisten degradiert. Eine ungewohnte Situation für ihn. Sicherheitshalber stellte er sich jedoch auf eine längere Wartezeit ein. *** Peter, in tiefer Meditation versunken, saß im Schneidersitz vor dem kleinen Schrein mit der goldenen Buddha-Figur. Nur wenige Kerzen erhellten den Raum. Vier umrahmten die Statue, eine weitere stand vor Peter am Boden. Plötzlich spürte er einen kalten Hauch, der ihn erschauern ließ. Er tauchte aus seiner Trance auf. Ohne die Augen zu öffnen, forschte er mit geschärften Sinnen in seiner Umgebung nach der Quelle dieser negativen Energie. Vor seinem inneren Auge entstand ein Bild: Er beobachtete, wie sein Vater den Drachenfluch herausforderte und schließlich besiegte. Augenblicklich verschwand der Einfluss der dunklen Mächte. Peter wusste, sie hatten eine weitere Hürde in diesem Kampf überwunden. *Alles okay, Paps?* *Mir geht es gut, mein Sohn.* Erleichtert atmete der junge Mann auf und konzentrierte sich wieder auf seine Vorbereitungen.
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