Teil 12
Autor: Tigerauge

 

Caine blinzelte. Zunächst verschwommen, dann immer deutlicher, erkannte er Kermits besorgtes Gesicht über sich. Dankbar für dessen Anwesenheit lächelte er ihm zu. Dann setzte er sich mit einem tiefen Atemzug langsam auf. Die aufkommende Übelkeit schob er beiseite.

"Sind Sie okay?", fragte sein Gegenüber.

Caine nickte, obwohl er die Schwäche seines Körpers deutlich spürte. Der Angriff der dunklen Macht hatte ihn enorm viel Kraft gekostet. Zwar hatte er die vergangenen Minuten in der Obhut des Detectives genutzt, sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen und seine Reserven zu mobilisieren, aber es blieb keine Zeit, sein Chi vollständig zu regenerieren.

Entschlossen erhob er sich, wobei sein Blick an dem Schwert und dem Aschehaufen zu seinen Füssen hängen blieb. Eine Augenbraue fragend hochgezogen sah er Kermit an.

"Das war nur irgend so ein oller Krieger", kommentierte dieser leichthin und deutete auf Peters Waffe, die in seinem Hosenbund steckte.

Der Shaolin musterte den jüngeren Mann eindringlich durch dessen grünen Gläser hindurch. Vor seinem inneren Auge entstand ein Bild:

Er - Caine - liegt wehrlos am Boden... ein Geisterkrieger steht über ihm, bereit zum tödlichen Hieb... Kermit zielt mit Peters Waffe... ein Schuss... von der Silberkugel getroffen bricht der Krieger zusammen und vergeht...

Der Priester deutete eine Verbeugung an und sagte: "Ich stehe in Ihrer Schuld, mein Freund!"

Der Ex-Söldner zuckte lediglich mit den Achseln. "Ich war zufällig gerade in der Gegend", versuchte er abzuwiegeln.

Caine lächelte und enthielt sich einer Erwiderung. Er wusste nur zu genau um Kermits stete Bemühungen, sein unnahbares Äußeres zu wahren, was letztlich dazu diente eine leidgeplagte, verletzliche Seele zu schützen. Es war nicht an ihm, Caine, diesen Schild zu durchbrechen. Entgegengebrachtes Vertrauen und Freundschaft würden es dem Ex-Söldner ermöglichen, sich Zug um Zug zu öffnen.

"Was ist hier eigentlich vorhin passiert?", wechselte Kermit das Thema. Er deutete auf das Chaos, das die Druckwelle hinterlassen hatte.

Caines Blick glitt über das Chaos in der Raummitte. Erst jetzt entdeckte er bestürzt die umgeworfenen Kerzen und den durchbrochenen Schutzkreis. Die Bücher lagen noch in dessen Zentrum, doch von Peter und seinem britischen Kollegen konnte er keine Spur entdecken. Ahnungsvoll horchte Caine in sich hinein und fand seine Befürchtung bestätigt. Er konnte Peter nicht spüren. Die Verbindung zu ihm war abgerissen.

"Sie sind gefangen in der Drachenwelt", flüsterte er geistesabwesend, ohne Kermits irritierten Gesichtsausdruck wahr zu nehmen.

Angst um das Wohlergehen seines Sohnes umklammerte plötzlich das Herz des Shambhala-Meisters. Würde es Peter gelingen zurückzukehren? Hatte er der gewaltigen Entladung der gegensätzlichen Energien überhaupt widerstanden? War Peter vielleicht verletzt oder gar...? Nein, diesen Gedanken wollte er nicht zu Ende führen.

Scharf rief er sich zur Ordnung, obwohl es ihm zunehmend schwerer fiel sich zu konzentrieren. Noch immer hing der Einfluss von Sun Longs dunkler Macht wie Nebelschwaden im Raum und vergiftete die Atmosphäre. Hilfesuchend wandte der Priester sich um und sah zu dem kleinen Altar hinüber. Die goldene Buddhastatue hatte den Angriff unbeschadet überstanden und thronte stoisch lächelnd inmitten einiger umgekippter Kerzen.

Mit wenigen Schritten erreichte Caine den Schrein und entzündete einige Weihrauchstäbchen. Er bückte sich und hob eine kleine Porzellanschale auf, die erstaunlicherweise unversehrt war. Nur der Deckel hatte sich verschoben, so dass ein Teil der darin enthaltenen Kräuter auf dem Boden verstreut lag. Behutsam stellte der Shaolin das Gefäß mit dem restlichen Inhalt wieder an seinen angestammten Platz. Ehe er den Deckel wieder sorgfältig verschloss, entnahm er ein Prise dieser besonderen Kräutermischung, die er sodann über der Flamme einer Kerze verbrannte.

Ein angenehmer, herber Geruch durchzog alsbald den Raum und klärte die Luft und Caines Bewusstsein. Endlich gelang es ihm, die ihn quälenden Gedanken beiseite zu schieben. Er würde früh genug erfahren, was mit Peter geschehen war.

Entschlossen konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor und, egal was ihn dort erwartete, die Verbindung zur Drachenwelt musste wieder hergestellt werden, ehe sich das Portal endgültig schloss.

***

"Was für eine Verbindung?" Suko blickte irritiert von Peter zu John und zurück.

"Seit wir hier eingetroffen sind, konnte ich stets die Gegenwart meines Vaters - sein Chi - spüren, auch wenn er in unserer Welt zurückgeblieben ist", erklärte der junge Cop und strich unbewusst über das Amulett. "Aber seit dem Angriff des Geisterkriegers ist der Kontakt abgebrochen. Entweder hat die Energieentladung das Portal wieder verschlossen oder...", Peter schluckte, zwang sich aber den Gedanken zu Ende zu führen, "... oder mein Vater ist nicht mehr in Lage auf meine Rufe zu reagieren."

Johns Hand legte sich beruhigend auf seine Schulter. "Wir werden einen Weg zurück finden", versicherte der Brite, doch Peter merkte wohl, dass seine Stimme lange nicht so zuversichtlich klang, wie seine Worte. Und er verstand ihn gut. Schließlich fühlte er sich genauso hilflos.

Kraftlos ließ er sich neben dem Altarstein nieder, lehnte seinen Kopf an den rauen Fels und schloss erschöpft die Augen. Die Anstrengung der letzten Stunden machte sich bemerkbar. Sein Arm schmerzte und er spürte die Nachwirkungen der energetischen Explosion, die nicht nur seinen Körper arg gebeutelt, sondern auch sein Chi beträchtlich geschwächt hatte.

Während er nun endlich erlaubte, dass John die Wunde versorgte und mit einem provisorischen Verband versah, zerbrach er sich den Kopf über einen Ausweg aus ihrer Lage. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Zeit lief ihnen davon und er musste, wohl oder übel, davon ausgehen, dass es Caine nicht mehr möglich war, ihnen zu helfen. Wieder schweiften seine Gedanken ab und Angst um seinen Vater drohte ihn zu überwältigen. 'Reiß dich zusammen, Peter!', rief er sich zur Ordnung. Er atmete ein paar mal tief durch und konzentrierte sich wieder auf ihr unmittelbares Problem. Es musste einfach eine Möglichkeit geben, selber den Rückweg zu finden.

"Wir brauchen etwas, das in unserer Welt existiert und das uns zurück führen kann. Etwas mit dem wir alle verbunden sind", überlegte Peter nun laut, wobei er seine britischen Kollegen eingehend musterte. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. 'Warum habe ich daran nicht gleich gedacht?', schalt er sich und schlug sich theatralisch mit der flachen Hand vor die Stirn. Seinen überraschten Partnern schenkte er ein erleichtertes Grinsen.

"Das Buch von Shambhala wird uns den Weg weisen", eröffnete er ihnen.

"Wie soll uns das Buch helfen?", fragte Suko erstaunt.

"Wir alle haben eine Verbindung zu diesem Buch. Ich weiß, dass Shambhala kein Mythos ist, denn ich war bereits dort", erklärte der Shaolin-Cop aufgeregt. Die Müdigkeit, die ihn zuvor umfangen gehalten hatte, war wie weggeblasen.

"Außerdem wirst du darin erwähnt, genauso wie ich und mein Kreuz", ergänzte John. Peter bemerkte erfreut, dass der Geisterjäger seinen Gedankengang nachvollziehen konnte und ihm zustimmte.

"Ich aber kenne dieses Buch überhaupt nicht", warf Suko immer noch skeptisch ein.

"Das ist zwar richtig, aber auch von dir ist dort die Rede", erinnerte sich Sinclair. "Du bist der Träger von Buddhas Stab und der Grund für unser Hiersein." Dann wandte er sich an Peter. "Ich glaube, du hast Recht! Das Buch könnte die Lösung sein."

"Es hat uns hierher gebracht und es wird uns nach Hause bringen." Peter nickte bestätigend und diesmal spürte er tatsächlich so etwas wie Zuversicht in sich aufsteigen. Das Buch besaß eine starke Aura und wenn es ihnen gelang, sich darauf zu konzentrieren, konnte es ihnen möglicherweise ein ebenso guter Führer sein wie Caine.

"Aber wie stellen wir die Verbindung zu dem Buch her?", ließ sich Suko erneut vernehmen.

"Wir müssen unsere Chis vereinigen und unsere Kräfte bündeln", erläuterte der Shaolin-Cop ohne zu zögern, obgleich er keinesfalls sicher sein konnte, dass sein Vorhaben erfolgreich wäre. Doch zum Einen sagte ihm sein Instinkt, dass er sich auf der richtigen Fährte befand und andererseits: was hatten sie schon zu verlieren?

Peter bedeutete den beiden Gefährten, sich im Kreis niederzulassen. "Wir sollten uns die positive Energie des Kreuzes und des Stabes zu nutze machen," schlug er vor und wies John, an das Kreuz in die Mitte ihres Kreises zu platzieren. Der Brite tat wie ihm geheißen, wobei er jedoch mit den Fingern das untere Ende weiter sicher umschlossen hielt. Die Kette hatte er locker um sein Handgelenk gewickelt. Anschließend legte Suko seinen Stab darüber, ebenfalls ohne ihn los zu lassen. Als Peter ihnen nun seine Hände entgegen streckte, ergriff der Geisterjäger seine Rechte und der Inspektor seine Linke. Der Kreis war geschlossen.

Der Shaolin-Cop schloss die Augenlider und konzentrierte sich auf seine Mitte. Genau wie Stunden zuvor sein Vater, gab er nun Anweisungen und leitete seine Gefährten an, sich auf die Energie ihrer weißmagischen Waffen und auf ihn selbst zu konzentrieren. Er spürte ein zunehmendes Kribbeln auf der Haut und öffnete sich seinen Gefährten, um sein Chi mit den ihren zu verbinden. Intensive Wärme und ein Gefühl der Stärke durchfluteten ihn. Vor seinem inneren Auge sah er John umgeben von der gleißend weißen Aura seines Kreuzes, während Suko in einen satt goldenen Mantel aus Licht gehüllt schien. Hinter dem Chinesen glaubte er schemenhaft das gütig lächelnde Gesicht zu erkennen, das er von so vielen Buddha-Statuen kannte.

Peter nahm sich einen kurzen Moment, um die höheren Mächte um Beistand zu bitten, dann bündelte er die geballte Kraft ihrer Chis und lenkte sie auf ihr gemeinsames Ziel: das Buch von Shambhala!

Plötzlich spürte er, wie ein mächtiger Sog sie erfasste. In einem Strudel aus Farben stürzten sie ins scheinbar Bodenlose. Obwohl Peter bereits einige solcher Dimensionsreisen erlebt hatte, fühlte er sich dennoch jedes Mal aufs Neue hilflos und ausgeliefert. Glücklicherweise endete die Reise ebenso schnell, wie sie begonnen hatte.

Nur Augenblicke später fanden sie sich in der Mitte eines weiten, runden Raumes wieder. Erstaunt und neugierig zugleich musterten sie ihre Umgebung. Wand und Boden bestanden aus schwarzem Marmor. Die Decke weit oberhalb, ließ sich nur erahnen. Rundherum entlang der Wand befanden sich unzählige Türen. Einige offen, andere geschlossen und machen öffneten oder schlossen sich gerade wie von Geisterhand. Erleuchtet wurde der Raum von einem silbrigen Licht, das von den milchig weißen Pfaden ausging, die von den Türen zur Mitte des Raumes führten und sich dort zu einem weiß strahlenden Sonnensymbol vereinigten.

"Wo sind wir hier?", fragte John und seine Stimme spiegelte ein gewisse Ehrfurcht wieder.

"Ich weiß es nicht genau", erwiderte Peter. Auch er spürte die besondere Ausstrahlung des Raumes, die ihm außerdem seltsam vertraut vorkam. Das Sonnensymbol, in dessen Zentrum sie standen, bestätigte seine Annahme. Dieser Ort schien in irgend einer Weise mit Shambhala in Zusammenhang zu stehen.

"Ich vermute, diesen Türen stellen Zugänge zu den verschiedensten Dimensionen dar", mutmaßte der Detective. "Mein Vater erwähnte mal eine Halle der Portale in Shambhala. Ich denke, das könnte das hier sein."

"Dann brauchen wir ja nur noch herausfinden, welcher dieser Pfade in unsere eigene Realität führt", bemerkte Suko trocken und ließ seinen Blick suchend über die Unzahl der Ausgänge gleiten.

 

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