Teil 6
Autor: Ratzenlady
 

Kapitel 6

Ryan fuhr mit starrem Blick über den Highway. Das Soundsystem ließ den Innenraum zu den harten Klängen von Hatesphere erbeben und die Musik dröhnte in seinen Ohren. Aber er nahm sie gar nicht wahr, es war vielmehr eine unterschwellige Unterstützung seiner Wut, und die Aggressivität der Klänge ließ seine Angriffs- und Tötungsbereitschaft steigen.

Er hatte noch etwa 2000 Meilen vor sich, und seine Sprituhr machte ihn zum ersten Mal darauf aufmerksam, dass er bald tanken musste. Wesentlich schneller als erlaubt jagte er die Viper über den Asphalt, seine Scheinwerfer blitzten gleichmäßig weiß und blau, -Standart aller zivilen Einsatzfahrzeuge, die keine Lichtorgel auf dem Dach hatten-. Denn das letzte, was er aktuell gebrauchen konnte, war ein übereifriger Highway-Trooper, der ihn wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhielt. Also brauste er mit eingeschalteten Signallichtern über die Straße und hoffte, dass sie ihn alle in Ruhe ließen.

Noch war er nicht lange unterwegs, aber es fühlte sich für ihn an, als wäre es schon eine Ewigkeit, die vergangen war, seit er heute Morgen als glücklicher Ehemann und Vater das Haus verlassen hatte.

Aber das war vorbei. Aus dem Ehemann war ein Witwer geworden, aus der Hälfte eines Elternpaares ein allein erziehender Vater; und grade das machte ihm Angst. So sehr er Joanna liebte, seine Zeit mit ihr verbrachte und spielte, so sehr fürchtete er sich nun davor, der Aufgabe allein nicht gewachsen zu sein. Aus diesem Grund war er in diesem Moment auch sehr dankbar dafür, dass sich beim FBI um Jo gekümmert wurde, auch wenn er dafür sorgen würde, dass sie so schnell wie möglich wieder dort wegkam. Er vermisste sie schrecklich, aber die dunkle Seite seiner Seele trieb ihn vorwärts, von ihr fort, weil er wusste, dass sie in Sicherheit war.

Er hatte schon so viele unmögliche Dinge möglich gemacht, war maßgeblich an Missionen beteiligt gewesen, deren Erfolg von oberster Stelle sogar angezweifelt worden war, und immer waren sie alle wieder raus gekommen und hatten 'Auftrag ausgeführt' vermelden können. Aber die Erziehung seiner geliebten Tochter machte ihm Angst und schien größer zu sein, als alle bisher ausgeführten Jobs zusammen. Diesmal war er sich nicht sicher, ob er es schaffen würde.

Aber immerhin wusste er, wem er diesen Zustand zu verdanken hatte, wer sein Leben von einer Minute auf die andere zerstörte. Und das war der Strohhalm, an den er sich klammerte, der seinen Lungen die nötige Luft zu weitermachen gab.

Cannon. Der Name donnerte durch seine Gedanken wie ein Presslufthammer. Es war nicht das erste Mal, dass er mit ihm zu tun hatte, nicht das erste Mal, dass er es auf ihn abgesehen hatte. Aber es war das erste Mal, dass es persönlich war, dass ihn niemand aufhalten konnte.

Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Namen. Damals war es nicht Harold, sondern dessen Sohn Richard gewesen, auf den sie angesetzt wurden. Eine heikle Operation, bei der ihre Beteiligung absolut geheim bleiben sollte, was auch lange Zeit offensichtlich funktioniert hatte. Bis jetzt.

Richard Cannon war zeit seines Lebens hauptberuflich Sohn gewesen, stand immer im Schutz seines Vaters: Dem Gouverneur von Kalifornien, Harold Cannon. Aber das wurde ihm irgendwann langweilig und er stieg im großen Stil in den Drogen- und Waffenhandel ein, versorgte irgendwann die ganze Westküste mit den entsprechenden Waren. Sein Imperium wurde zu groß, und das rief die Special Forces auf den Plan, die Blacks, die handelnden Truppen. Kurz: Shooter, Turn, Moon und Operations.

Der Auftrag war heikel. Schaltet ihn aus, aber lasst es so aussehen, als wären es seine eigenen Leute oder Kunden gewesen. Denn der Gouverneur wusste von dem Treiben seines Sprösslings; und deckte es. Und er war in seinem Amt zu mächtig, als dass man ihn dabei hätte aushebeln können.

Die Mission war aus dem Ruder gelaufen, diverse Details hatten sie fast in einer Katastrophe enden lassen, aber schließlich war es Haley gelungen, sie alle aus der Gefahrenzone zu lotsen und gleichzeitig den Auftrag auszuführen.

Ryan holte seine Gedanken aus der Erinnerung heraus. Was Hal damals geleistet hatte, war sogar für sie alle außergewöhnlich gewesen, und sie hatte mal wieder ihren aller Arsch gerettet. Und jetzt war sie tot. Weil Harold Cannon offensichtlich dahinter gekommen war, wer seinen Sohn auf dem Gewissen hatte.

Auch er hatte auf der Liste gestanden, weil er seinen Sohn gedeckt und unterstützt hatte. Sie wollten ihn nicht ausschalten, nur aus dem Verkehr ziehen, Beweise hinterlegen und ihn ins Messer laufen lassen, damit er sein Amt und die damit verbundene Macht verlor. Der Zugriff war vollständig geplant gewesen, stand kurz vor der Ausführung, und wurde dann von oberster Stelle abgeblasen. Er hatte den Zorn und das Unverständnis darüber noch gut in Erinnerung, aber sie hatten keine Wahl, als ihren Befehlen zu gehorchen und alle gesammelten Informationen einzumotten.

Aber eben diese Informationen geisterten jetzt durch seinen Verstand. Pläne des Grundstücks, Angaben über Wachpersonal in Anzahl, Position und Bewaffnung, Grundrisse des Erdgeschosses und der ersten Etage, minutengenaue Ablaufpläne der ein- und ausgehenden Personen. Und weil er sie einmal gesehen hatte, waren sie jetzt noch scharf und deutlich in seinem Gedächtnis.

Ryan war sich bewusst, dass all diese Informationen mittlerweile über vier Jahre alt waren, und er musste mit Veränderungen im Kleinen rechnen, aber er ging davon aus, dass sich im Großen und Ganzen nichts geändert hatte. Und selbst wenn, dann war es ihm auch egal. Schließlich wusste er, dass es ein Himmelfahrtskommando war, und sein einziges Ziel war Cannon. Wenn er ihn erwischt hatte, dann war alles, was danach passierte, ohne Bedeutung.

Mit starrem Blick schob er die Pläne in seinem Kopf zunächst noch mal zurück und steuerte einen Rastplatz an. Behände lenkte er den Sportwagen an die Zapfsäule und stieg aus. Dem heraneilenden Tankwart warf er ein kaltes 'Volltanken und lassen sie bloß die Haube zu!' zu und ging dann in den kleinen Shop. Schnell schweiften seine Augen über die Regale und führten ihn zu den Getränken, wo er sich eine große Flasche Wasser griff und dann vor den Alkoholika verharrte.

Er hatte noch einige Stunden Fahrt vor sich, und die Zeit würde reichen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, also griff er nach dem Whiskey und klemmte sich die Flasche mit der bräunlichen Flüssigkeit unter den Arm, um mit der freien Hand nach seinem Geldbeutel zu angeln.

Er bezahlte die beiden Getränke und ging dann wieder nach draußen, wo der Mann in der ölig-blauen Latzhose grade den Zapfhahn wieder in die Säule hängte. Er begutachtete den Einkauf des blonden Cops und konnte sich nicht zurückhalten, Ryan mitzugeben, dass er den Schnaps erst nach dem Fahren trinken sollte. Als Antwort bekam er einen eisigen, bösen Blick, der ihn automatisch einen Schritt zurück machen ließ.

"Vierundsechzig-vierzig, bitte", murmelte er stattdessen leise und trat von einem Bein auf das andere. Der Kunde machte jetzt plötzlich einen ganz anderen Eindruck auf ihn. Und hatte er eben noch auf ein fürstliches Trinkgeld gehofft, betete er jetzt nur noch, dass Ryan seine Rechnung überhaupt bezahlte und ihm nicht einfach eins überbriet.

"Stimmt so", knurrte der frühere Agent, reichte ihm einen Hundertdollarschein und war schon im Auto, als der Tankwart die Höhe seines Trinkgeldes festgestellt hatte. Ryan wollte so schnell wie möglich weiter und keine weitere Konversation mit dem Typen, deshalb startete er den Motor und donnerte mit aufheulender Maschine wieder auf den Highway.

Jetzt kramte er die Gebäudepläne wieder aus seiner Erinnerung hervor und sie erschienen vor seinem inneren Auge mit einer solchen Schärfe, als hätte er sie erst gestern betrachtet. Nebenbei drehte er den Deckel der Whiskeyflasche ab und nahm einen tiefen Zug, der sein zu Eis erstarrtes Innenleben nur unmerklich wärmen konnte.

Es gab keine Wachen in dem Haus, jedenfalls damals nicht, weil Cannon das nicht wollte. Also widmete sich Ryan zunächst den Männern auf dem Gelände, mit ihren Ablösezeiten und allem, was sonst noch dazugehörte.

Die Villa des Gouverneurs stand mittig auf einem großen Grundstück, mit einem Eingang nach vorn, und einem nach hinten, zur Terrasse. Ebenso verhielt es sich mit dem Zutritt zum Gelände. Das Haupttor vorne, ein schweres, voll-eisernes Tor hinten, durch das die Angestellten zur Arbeit gelangten. Dieses war auch nur von Innen durch einen der Wachhunde im zentralen Wachhäuschen zu öffnen.

Diese Hütte stand ebenfalls hinter dem Haus, ständig mit einem Mann besetzt. Darüber hinaus standen stetig zwei Männer am Haupttor vorne, zwei auf der Terrasse (außer Cannon empfind dort Besuch, dann zogen sie sich etwas zurück), zwei vor der Haustür und dreien, die mit Dobermännern an der Leine über den Rest des Geländes gingen und auch alles weitere kontrollierten. Also insgesamt zehn gut ausgebildete Männer und drei Hunde; zu damaligem Stand.

Ryan ging gedanklich alle weiteren Pläne durch, wo sich Cannons Arbeits- und Schlafzimmer befand, zu welchen Zeiten er sich früher aufgehalten hatte, einfach alles. Er hatte noch viel Zeit, um alles zu reflektieren und sich seine Taktik zu überlegen, schließlich hatte er noch viele Tankstops vor sich und würde eigentlich auch noch etwas schlafen müssen, auch wenn ihm nicht danach zumute war und er Angst vor dem hatte, was sich womöglich in seine Träume einschleichen konnte.

Haleys Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Nicht, wie sie immer ausgesehen hatte: stark und mit der Ausstrahlung einer Wildkatze; sondern wie er sie im Krankenhaus beobachtet hatte, vor wenigen Stunden: ihr gut trainierter Körper lag unter einer Decke, die sich bis über ihre Brust zog. Ihre Schultern steckten in einem Krankenhaushemd, ebenso ihre Oberarme. Aus den Armbeugen ragten auf beiden Seiten Kanülen und Schläuche. Ihr Gesicht war etwas blasser als sonst, aber es wirkte immer noch willensstark, aus ihrem Mund ragte ein Tubus, der ihre Lungen in gleichmäßigen Abständen mit Luft versorgte. Ihre braunen, langen Haare lagen in sanften Wellen um ihren Kopf.

Wenn die ganzen Apparaturen nicht gewesen wären, dann hätte man glauben können, dass sie schlief. Aber er wusste, dass sie nicht schlief, nicht freiwillig, nicht friedlich. Sie lag im Koma, und es konnte bis heute kein Gelehrter sagen, was Menschen im Koma empfanden. Ob sie wohl träumte? Ob sie wusste, dass er da war? Ob sie ahnte, was er vorhatte?

Zumindest letzteres konnte er verneinen. Egal in welchem Zustand, wenn sie tatsächlich in der Lage gewesen wäre, vorauszusehen, was er tun würde, wäre sie aufgesprungen und hätte ihn davon abgehalten. Aber sie war nicht aufgewacht, hatte ihn nicht aufgehalten, sondern war stattdessen kurz darauf gestorben.

Ein leises Schuldgefühl wegen seiner Tochter schlich sich in sein Unterbewusstsein. Er hatte schon seine Frau verloren, und verließ jetzt auch noch Joanna. Es war nicht richtig, und Haley würde es auch nicht richtig finden, aber es war nötig. Es musste einfach sein, solange Jo in Sicherheit und keiner Gefahr ausgesetzt war, solange er Rache üben konnte.

Erst jetzt bemerkte er den Schmerz in seinem Kiefer, der durch das starke Zusammenpressen seiner Zähne verursacht wurde. Sein Gesicht hatte sich verfinstert, aber das sah natürlich niemand, aber wenn es jemand gesehen hätte, wäre er freiwillig rückwärts gegangen, um nicht mit ihm aneinander zu geraten.

Ryan trat noch mehr aufs Gas und schickte die Viper nun noch rasanter über den Highway, um noch schneller an seinem Ziel zu sein, um diesen Dämon Trauer und die Hexe Schmerz endlich loszuwerden. Auch wenn er kaum Hoffnung hatte, dass das funktionierte.
Aber er würde es zumindest probieren…

* * *

Kermit stellte die Corvair in der Tiefgarage ab, stieg aus und ging um den Wagen herum. Sein Gesicht war mittlerweile zu einer versteinerten Maske geworden, die keine Gefühlsregung erkennen ließ. Er öffnete die Tür, griff nach dem Oberarm von Sun Ni und half ihr halbwegs sanft beim Aussteigen.

"Danke", sagte sie zickig und entzog sich ihm. Die Tatsache, dass sie in Handschellen lag, passte ihr gar nicht. Und auch Kermit war nicht besonders freundlich zu ihr gewesen, das heißt, eigentlich war er gar nicht gewesen, weder freundlich noch unfreundlich, es war mehr, als würde er sie gar nicht bemerken. Er hatte sie zum Auto gebracht, sie hineingesetzt und jetzt wieder ausgeladen; mehr nicht. Kein Wort hatte er gesprochen während der Fahrt, keine Bemerkung, keine Geste.

Kermit deutete ihr mit einer Handbewegung die Richtung zum Fahrstuhl an und sie trabte mit erhobenem Haupt voran, während sich der Ex-Söldner schon fragte, warum er das eigentlich auf sich genommen hatte. Vor allem weil es eine riesige Diskussion mit Monahan darüber gegeben hatte, der wenig erbaut schien. Und jetzt hatte er diese Zicke am Hals, obwohl ihm sein Kopf eigentlich nach anderen Dingen stand.

Es juckte ihn in den Fingern, Ryan zu suchen und ihn aufzuhalten. Die Überlegung, dass er seinen Kollegen ohnehin nicht würde finden können, blendete er aus. Eigentlich wusste er, dass er keine Chance hatte, wenn Ryan nicht gefunden werden wollte, vermutlich würde selbst das FBI ihn nicht aufspüren können.

Mittlerweile waren sie im Fahrstuhl angekommen und der Cop streckte in gewohnter Manier seinen Finger aus und wählte die Etage. Mit einen leisen Seufzen nahm er das abweisende Verhalten seines Schützlings wahr.

Sun Ni hatte ihm demonstrativ ihren Rücken zugedreht und starrte stur gegen die Wand. Ihre Gedanken wirbelten wild in Kreis. Auch sie empfand Trauer, genauso wie Kermit, was sie natürlich nicht wissen konnte. Ihre Cousine und sie hatten ein enges Verhältnis, wie Schwestern und Freundinnen, und jetzt war sie einfach tot.

Aber neben der Trauer schwelte auch Zorn in ihrer Brust, wie der Shaolin auf dem Revier es gesagt hatte. Sie war wütend und hegte Rachepläne gegen die Menschen, die ihre Cousine auf dem Gewissen hatte. Und was sie den Cops nicht erzählt hatte, war dass sie durchaus eine Vorstellung hatte, wer dafür verantwortlich war. Sie würde es ihm auch nicht sagen, denn sie wollte es selbst richten, wollte selbst Rache nehmen, denn was hatte sie schon zu verlieren…?

Kermit stieß sie, begleitet von einem brummenden Laut, mit einem Finger an der Schulter an, um sie sie darauf aufmerksam zu machen, dass die Fahrstuhltür schon längst offen stand. Sie zog ihre Seite weg und trat wieder vor ihm in den Flur, dann blieb sie allerdings stehen und schaute sich fragend nach beiden Seiten um.

Der Ex-Söldner packte sie wieder am Arm, weil er nun die Richtung zu seiner Wohnungstür vorgab und nicht wollte, dass sie ihm davon lief. Natürlich würde er sie problemlos einholen können, aber er wollte erst gar nicht in die Situation kommen, dafür waren seine Gedanken viel zu weit weg.

Als sie schließlich vor der Tür angekommen waren, beobachtete sie aufmerksam, wie Kermit die diversen Schlösser entriegelte und ihr schließlich den Vortritt in sein Reich ließ. Es behagte ihm gar nicht, sie mit sich zu nehmen, aber auf der anderen Seite sah er keine andere Möglichkeit, um für ihre Sicherheit zu garantieren. Peters Kommentar hatte ihm die letzte Bestätigung für seine Bedenken gegeben.

Sun Ni stand jetzt etwas unsicher im Wohnraum und sah sich um. Sie hatte nicht erwartet, dass die Wohnung dieses unfreundlichen Cops so ordentlich und stilvoll eingerichtet war. Sie wusste nicht, wie sie sich hier bewegen konnte und durfte, zudem störten sie die Handschellen, die noch immer ihre Handgelenke zusammenbanden. Sie hoffte, dass er sie ihr endlich abnehmen würde.

Kermit schloss unterdes sorgsam die Schlösser von innen wieder ab, und weil er wusste, dass sie ihn dabei beobachtete, zeigte er ihr demonstrativ den kleinen Schlüsselbund und steckte ihn dann in seine Tasche.

"Ganz toll", reagierte sie auf seine Geste und sah ihn finster durch ihre schönen Mandelaugen an, "nehmen sie mir jetzt die Dinger ab? Ich müsste mal auf die Toilette."

Kermit wühlte in seiner Tasche und holte den Schlüssel für die Handschellen hervor. Während er jetzt um sie herum ging und sich an ihren Handgelenken zu schaffen machte, erklärte er ihr die Spielregeln.

"Durch die Vordertür kommen sie nicht raus. Aus dem Fenster springen wäre in Anbetracht der Höhe ein ziemlich sinnloses Unterfangen. Des Weiteren bekommen sie weder über den Balkon, noch durch eines der Fenster die Möglichkeit, auf irgendeine halsbrecherische Art und Weise in eine andere Wohnung und somit nach draußen zu gelangen. Und kommen sie nicht auf die selten dämliche Idee, mir etwas überbraten zu wollen. Das würde ihnen mehr wehtun als mir. Kurz: Versuchen sie also gar nicht, hier herauszukommen. Ansonsten können sie sich frei bewegen, Küche, Wohnzimmer, Bad. Mein Schlafzimmer ist tabu!"

"Was sollte ich da auch wollen?", schnippte sie sofort und richtete ihren Körper noch weiter auf, grade als die Schellen um ihre Handgelenke gelöst wurden. Sie holte ihre Arme nach vorne und rieb sich die Gelenke.

Kermit kam um sie herum, stand jetzt ganz nah vor ihr und ließ sie die Umrisse seiner Augen durch das dunkle Glas erahnen. "Keine Ahnung. Es ist mir auch egal. Aber wenn sie auch nur einen Fuß da rein setzen, dann…"

"WAS?", unterbrach sie sofort und starrte ihn angriffslustig an. Kermits Blick, der sich sehr verfinstert hatte bei ihrem Konter, ließ sie allerdings kurz unsicher werden. Vielleicht war es doch falsch gewesen, diesen düsteren Mann zu reizen.

Kermit war ihr jetzt so nah gekommen, dass sie seinen schweren, gepressten Atem spüren konnte, der durch seine Nase kam. Auch einen drohenden brummenden Laut hatte sie vernommen, der tief aus seiner Kehle gekommen sein musste. Jetzt hatte sie tatsächlich ein wenig Angst vor ihm, obwohl sie vorher so sicher gewesen war, dass er als Cop ihr nichts tun konnte, wie sie sich auch verhielt.

"Dann werde ich ihren Arsch auf die Straße schleifen, an einer Laterne fest ketten und ein großes Schild mit ihrem Namen drüber hängen. Mal sehen, wie lange es dauert, bis die Leute sie gefunden haben, die sie tot sehen wollen!", zischte er überaus leise durch seine Zähne.

Sun Ni schluckte. Natürlich war es unrealistisch, dass er das genau auf diese Art machen würde, aber sie wusste, was er damit meinte. Und ein ganz merkwürdiges Bauchgefühl sagte ihr, dass er tatsächlich dazu in der Lage war, ihre Sicherheit plötzlich für unwichtig zu erklären und sie sich selbst zu überlassen, ohne eine Chance der Flucht.

"Haben wir uns verstanden?", hakte Kermit noch mal nach, seine Nase berührte fast die ihre, ihre großen, ängstlichen Augen waren nur wenige Zentimeter von der Brille entfernt. Mehr als ein Nicken bekam er nicht zur Antwort, aber das reichte ihm auch schon. Wenn er sich so deutlich ausgedrückt hatte, dass es ihr die Sprache verschlug, dann hatte er ja alles richtig gemacht.

"Gut. … Haben sie Hunger?", fragte der Ex-Söldner nun in einem normalem Tonfall, nachdem er sich wieder von ihr entfernt hatte.

"Ein wenig", antwortete sie kleinlaut und sah sich wieder unsicher um. Auch wenn er gesagt hatte, sie könne sich im Wohnraum frei bewegen, hatte sie jetzt Bedenken, sich auf die bequem anmutende Couch zu setzen.

"Ich seh mal, was ich noch habe", murmelte er und trabte in die Küche, obwohl er selbst keinerlei Hunger hatte. Dafür beschäftigte er sich gedanklich noch viel zu sehr mit Haleys Tod und Ryans Verschwinden. Das verdarb ihm jedweden Appetit.

"Ich hätte noch eine Dose Ravioli oder ich brate ihnen schnell Eier mit Speck. Allerdings hätte ich kein Brot dazu", rief er kurz drauf aus der Küche zu der Frau, die immer noch unsicher hinter dem Sofa stand. Schnell überlegte sie, was dem Cop wohl weniger Arbeit machte, um ihn nicht noch zunehmend zu reizen.

"Die Ravioli, bitte", antwortete sie laut, aber immer noch mit deutlicher Schüchternheit in der Stimme. Die Umrisse von Kermits Augen, die sie so böse und drohend angesehen hatten, waren dafür verantwortlich, dass sie ihr Verhalten ihm gegenüber geändert hatte. Sie hatte tatsächlich Angst davor, dass er ihr etwas tun könnte, sofern sie sich wider seine Regeln verhielt.

Erst jetzt bemerkte sie wieder, dass sie auf Toilette musste, und deshalb sah sie sich unschlüssig um. Woher wollte sie wissen, welche der Türen zu Kermits Schlafzimmer führte, welche sie auf keinen Fall öffnen durfte, wenn sie seinen Zorn nicht gänzlich auf sich ziehen wollte. Sie beschloss, ihn am besten zu fragen, um nichts falsch zu machen.

"Wo ist denn das Bad?", fragte sie, nach dem sie den Türrahmen der Küche erreicht hatte.

Kermit drehte sich zu ihr um und beschrieb ihr die Tür. Er blickte noch ein paar Sekunden in das leere Loch und drehte sich wieder dem Topf zu, in dem er die Nudeln erwärmte. Seine Ansprache schien tatsächlich gefruchtet zu haben, denn sie verhielt sich jetzt wesentlich zurückhaltender und weniger aggressiv. Es war ihm auch ganz recht so, dann hatte er hoffentlich keinen Ärger mit ihr, bis er herausgefunden hatte, was es mit dem Mord auf sich hatte. Richtigerweise hatte er nämlich das Gefühl, dass ihre Geschichte Löcher hatte, und deren Inhalt musste er noch aus ihr heraus bekommen.

Gedankenverloren rührte er in dem Topf, dachte an Ryan und daran, wohin der sich wohl aufgemacht hatte, um Haleys Tod zu rächen. Er machte sich Sorgen um seinen Partner, den er inzwischen zu seinen Freunden zählte. Und er machte sich Sorgen um Cat, die schon wieder jemanden verloren hatte, der ihr nahe stand. Tatsächlich hatte er Angst, dass die junge Frau eines Tages zusammenbrach aufgrund der Schicksalsschläge, die ihr schon so oft widerfahren waren.

Und mit diesen schweren Gedanken und Sorgen verbrachte er den Rest des Abends meist schweigend, zog sich früh in sein Schlafzimmer zurück und ließ die junge Halbchinesin auf der Couch zurück, die er ihr hergerichtet hatte.

 

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