Kapitel 18 Cat ging zielstrebig zu ihrem CD-Regal und nahm die Tasche mit den selbst zusammengestellten CDs heraus. Sie hatte sich eine Kerze auf dem Wohnzimmertisch angezündet, aber zur Auswahl brauchte sie eigentlich kein Licht. Die, welche sie hören wollte, hatte sie schon so oft in ihrem Leben in den Player geschoben, dass sie blind wusste, wo sie sich befand. Sie hatte den Sampler damals nach dem Tod ihrer Familie zusammengestellt und kannte die Playlist in- und auswendig. Sie wusste genau, dass sie bereits nach den ersten paar Tönen in heftige Tränen ausbrechen würde, aber dennoch schob sie die glänzende Scheibe in die Stereoanlage. Anschließend verkroch sie sich aufs Sofa, deckte sich mit der kuscheligen Decke zu und kauerte sich zusammen. Ihren Blick fixierte sie auf die Kerze vor sich auf den Tisch, aber es dauerte wie vorhergesehen nicht lange, bis sie die züngelnden Umrisse der Flamme nur noch verschwommen wahrnahm. Sie weinte völlig lautlos, die Tränen kullerten ihre Wange herunter und wurden in regelmäßigen Abständen von ihren zittrigen Händen weggewischt. Auch das war ein Überbleibsel ihrer damaligen Trauer; irgendwann hatte sie sich schon selbst nicht mehr weinen hören können. In Gedanken sah sie die Bilder ihres Alptraumes wieder und wieder vor sich ablaufen, wie ein Film in der Endlosschleife. Sie war im Gerichtsgebäude und blickte auf Karens Leiche herab. Einige Polizisten standen ihr im Weg und verdeckten die weitere Sicht, nur der kalte Körper ihrer Freundin war sichtbar. Nach und nach aber traten die Einsatzkräfte beiseite, und dann wurde es richtig schlimm. Neben Karen lagen ihr Bruder, ihre Mutter, ihr Vater und Mitch aufgereiht, alle mit leeren, toten Gesichtern. Sie drehte sich um, weil sie davon laufen wollte, stand dann aber vor dieser schrecklichen kreisförmigen Apparatur, in der Peter hing und langsam aber sicher verblutete. Wieder drehte sie sich, aber da waren die Leichen; wieder, der sterbende Peter. Sie drehte sich schneller und schneller, bis sie urplötzlich stehenblieb, ihre Familie zur rechten, Peter zur linken. Dann sah sie Kermit, ihren Retter von damals, der davonrannte, der einen Ausweg gefunden hatte, der sie aber allein zurückließ. Cat schlug die Hände vors Gesicht und kniff die Augen zusammen. Es sollte aufhören, einfach nur aufhören! Peter hatte es ihr ja angeboten... Nein! Irgendwann musste es doch von allein versiegen, irgendwann mussten doch endlich alle Tränen geweint sein! Sie konzentrierte sich auf den Song, mittlerweile der vierte der CD, um sich abzulenken, und allmählich gelang es ihr sogar, obwohl sie den Text bereits in und auswendig kannte. Nach den anfänglich ganz ruhigen Songs von Placebo und Muse kam jetzt die etwas härtere Richtung, die aber auch ein hohes melancholisches Potential hatte. "Our friends are all hurting from moments
and regrets, and charity laced with a lie. Cat dachte über die Zeilen nach. Sie passten besser zu ihrer Situation, und der von Peter, Kermit und allen anderen, als sie es jemals zuvor getan hatten, wenn sie dieses Lied hörte. Wie sehr schmerzten die Ereignisse und die Schuldgefühle, wie viel Mitgefühl war tatsächlich echt? Aber noch hatten sie die Hoffnung, dass es besser werden konnte, dass ein Teil der Schäden dieser Tage repariert werden konnte und Stärken daraus zu ziehen waren. "We go on together for better or worse,
our history is too real to hate. Eine stille Träne rann über ihre Wange, Schuldgefühle breiteten sich in ihrer Brust aus. Das war es genau, was sie dem Mann geschworen hatte, den sie in ihrem Bett zurückgelassen hatte an diesem Morgen, anstatt ihre Sorgen mit ihm zu teilen. Ihre gemeinsame Vergangenheit war real und voller Liebe und Vertrauen, so viel hatten sie schon zusammen durch gestanden. Sie hatten es sich versprochen, jetzt und für immer würden sie für ihr Glück kämpfen! Cat wischte sich die Träne weg und war schon drauf und dran, aufzustehen und Peter genau das genau jetzt zu sagen, dann aber wurde sie sich der Uhrzeit bewusst und beschloss, ihren Mann dann doch ausschlafen zu lassen. Hatte sie wirklich an ihrer gemeinsamen Liebe gezweifelt? Ein Lächeln glitt über ihre Lippen als sie sich bewusst wurde, dass sie da tatsächlich nicht alleine durch musste und Peter immer für sie da war. "Til we die Ja, bis sie sterben würde, würde Peter an ihrer Seite sein. Ein warmer Schauer durchfuhr ihren Körper und sie lächelte; zum ersten Mal seit elf Tagen war sie zumindest für einen Moment aus vollem Herzen glücklich. So schwer der Verlust und die Trauer war, und so brutal hilflos sie sich fühlte, alleine musste sie es nicht tragen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann würde sie darüber hinweg kommen, so wie sie damals auch über den Tod ihrer Familie hinweg gekommen war und Peter über den Tod seines Vaters. "I never stopped trying, I never stopped feeling like family is much more than blood.” Kermit. Das war der erste Gedanke bei dieser Textzeile, der ihr durch den Kopf schoss. Sie machte sich furchtbare Sorgen um ihn, hatte Angst dass er an dem Verlust zerbrechen würde. Ihre leibliche Familie war bereits tot, also hatte sie hier unter Peters engen Vertrauten eine neue gefunden. Und als wäre es ihre eigene hatte sie schreckliche Angst um jeden von ihnen. Während sich der Refrain des Liedes wiederholte dachte Cat über den rüden Freund nach. Sie hatte schon einiges mit ihm durch, von einer Art Freundschaft über tiefen Hass seinerseits bis hin zu der engen Verbundenheit und dem Vertrauen, was sie inzwischen verband. Cat strich sich über die Augen, während in der Stereoanlage der nächste Song anlief. Wieder passte er so ausgesprochen gut zu ihren Gedanken, dass sie sich unweigerlich fragen musste, ob sie bei dem Zusammenstellen der CD unbewusst einen Blick in die Zukunft geworfen hatte. Da waren sie, die Zeilen, die mit ziemlicher Sicherheit beschrieben, wie Kermit sich fühlen musste. Die seine Zerrissenheit darstellten, welche sich nach Peters Aussagen schon von Anfang an durch die Beziehung zu Karen gezogen hatte, weil Kermit sich um jeden fürchtete, der ihm nahe stand und sie deshalb am liebsten schon von vornherein weggeschickt hätte. "I only wish you weren't my friend * * * Vor den anderen betrat Kermit als erster das Lager, die anderen folgten schleppend, die Stimmung war verhalten. Zwar waren sie siegreich gewesen, mussten aber einige Verluste beklagen. Stumm ging der Söldner direkt zu seinem Zelt und verschwand darin. Langsam brach die Abenddämmerung über sie herein und es begann allmählich, etwas kühler zu werden. Er zündete die kleine Lampe auf dem kleinen Tisch an, legte das Maschinengewehr mit dem man ihn ausgerüstet hatte ab und warf sein durch geschwitztes Oberhemd in die Ecke. Anschließend legte er die Eagle auf den Tisch neben seinen Lap Top und streifte das Holster ab. Sein Computer erwartete ihn so, wie er ihn verlassen hatte. Gewohnheitsmäßig klappte er ihn auf und wartete darauf, dass der Rechner aus seiner Stand by Stellung wieder zu Leben erwachte. Während er das tat, ließ er sich in seinen Klappstuhl fallen und zündete eine Zigarette an. Er zog den Qualm tief in seine Lungen und ließ ihn dort einen Moment verharren, ehe er ihn langsam und in großen grauen Ringen wieder in die Luft entließ. Seine Konzentration lag allein auf der Zigarette, die er sich redlich verdient hatte, damit er nicht dazu kam, nachzudenken. Er hatte verdammt viele von den Mistkerlen in die Hölle geschickt, grade als sie dabei waren alle Männer, Frauen und Kinder aufzustellen, die ihrer Meinung nach nicht reinen Blutes waren, um sie eiskalt abzuknallen. Das war der Moment, als sie das Dorf gestürmt hatten. Mit knapp fünfzig Mann waren sie über die etwa zwanzig Soldaten hergefallen und hatten sie nach einem schnellen Feuergefecht besiegt. Kermit nahm den letzten tiefen Zug an seinem Glimmstängel und drückte ihn dann in einer zum Aschenbecher umfunktionierten Blechdose aus. Fest rieb er sich die Augen und kniff die Lider zusammen. Warum fühlte er sich nicht besser? Warum… Das Notebook teilte ihm mit, dass die zuvor eingerichtete Internetverbindung jetzt wieder aufgebaut war. Sofort öffnete sich sein Emailprogramm wieder und der Cursor wartete gierig auf die Eingabe seines Passwortes. Wie einige Stunden zuvor saß der Mann mit der Sonnenbrille jetzt da und starrte auf den Bildschirm, unschlüssig, was er tun sollte. "Griffin?", drang es von der Außenseite seines Zeltes zu ihm durch. Ein leises Knurren unterdrückend drehte er sich zum Eingang und ließ ein harsches ‚Ja’ hören. Es war Mekapu, der sich jetzt durch die Stoffbahnen schälte und eine Flasche Whiskey in der Hand trug. "Wollen sie einen Schluck?", fragte er mit seiner tiefen Stimme. Kermit betrachtete die bräunliche Flüssigkeit fast schon andächtig, während er zunächst schwieg. "Gern", sagte er knapp und bot dem fast zwei Meter großen Mann einen zweiten Stuhl an, der noch zusammengeklappt an der Wand des Zeltes lehnte. Er wollte nicht wirklich, dass er sich zu ihm setzte und Gesellschaft leistete, aber aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, hatte er ihm den Platz angeboten. Mekapu reichte Kermit zunächst die Flasche, während er nach der Sitzgelegenheit griff. Beherzt nahm er einen großen Schluck und ließ die leicht brennende Flüssigkeit seine Kehle hinab fließen. "Sie reden nicht viel, nicht wahr?", fragte Mekapu und beobachtete ihn auffällig. Kermit warf ihm einen brennenden Seitenblick zu. Was ging es ihn an? So viel Respekt der frühere Detective für den Rebellenführer hatte, was wollte er von ihm? "Nein", knurrte er abweisend und reichte die Flasche wieder zurück. Auch sein Boss saugte lange daran. "Der Mann, der mir ihr Kommen angekündigt hat, hatte das schon erwähnt. Er meinte, ich solle mir keine Gedanken machen, sie seien allgemein sehr schweigsam und unnahbar. Dennoch interessiert es mich, was für ein Mann das ist, der sein Leben für eine Sache riskiert, die nicht seine eigene ist", teilte er mit. "Ein Mann, dessen Leben niemanden sonst etwas angeht", sagte Kermit mit hochgezogenen Augenbrauen, um seine Aussage zu verdeutlichen. Mekapu verzog einen Mundwinkel und schlug sich auf die Oberschenkel. "Also gut", sagte er und stand auf, "dann lass ich sie wieder alleine. Wir sehen uns morgen früh, gute Nacht. Und behalten sie die hier", verabschiedete sich und stellte den Whiskey auf dem Tisch ab. Kermit nickte nur und wartete dann regungslos, bis er wieder allein in seinem Zelt war. Dann griff er nach der noch über halbvollen Flasche und setzte sie erneut an. Ein warmes Gefühl bildete sich in seinem Magen, aber in seinem Herz änderte sich nichts, es fühlte sich noch immer eiskalt. Noch immer gierte der Cursor auf dem Bildschirm des Laptops nach der Eingabe seines Passwortes. Kermit beobachtete das Blinken bewegungslos, nur sein Arm hob sich ein weiteres Mal, um einen Schluck Whiskey zu nehmen. Langsam spürte er den Schleier, der sich über seine Wahrnehmung legte, und er war dankbar dafür. Sein Notebook wechselte in den Bildschirmschoner und ließ den kleinen Frosch wieder Fliegen fangen, während Kermit noch immer darauf starrte. Wieder nahm er einen langen Zug aus der Flasche und ließ den Alkohol wirken; wenn er Glück hatte, würde der Inhalt des Glasgefäßes sein Bewusstsein soweit verschwimmen lassen, dass der Schmerz endlich aufhörte. Dass er Karen nicht mehr vor seinem inneren Auge sah, dass sie ihm keine Vorwürfe mehr machte. Er war sich absolut bewusst, dass er sich eigentlich nicht betrinken durfte, denn es war immer möglich, dass sie angegriffen wurden oder das Lager spontan und hastig umziehen mussten. Kermit zuckte bei der Überlegung die Schultern. Was sollte passieren, wenn er sich nicht verteidigte? Außer dem Tod gab es hier keine Gefahr für ihn, und vor dem fürchtete er sich auch nicht mehr. *Was soll’s*, sagte er sich selbst in Gedanken und trank ein paar weitere gierige Schlücke, die seinen Magen wieder wohlig brennen und ihn für ein paar selige Stunden alles vergessen ließen. * * * Vorsichtig zog Peter die Wohnzimmertür auf und erwartete seine Frau dem Sofa vorzufinden, allerdings war der Raum verwaist. Er konnte aber jetzt leise Musik aus der Küche vernehmen und ging dem Geräusch entgegen. Vorsichtig setzte er seine nackten Füße auf den kühlen Boden und betrat den Flur. Jetzt konnte er hören, dass Cat die gewohnte Musik hörte, etwas Schnelles und Schrilles, bei dem man kaum ein Wort verstand; die Art von Musik, die Cat bei relativ guter Laune hörte. Er krauste seine Stirn, die Situation kam ihm allmählich merkwürdig vor. Er stellte sich in den Türrahmen und beobachtete seine Frau, die grade dabei war, Eier und Speck zu braten. Hatte sie während er noch einmal eingeschlafen war eine plötzliche Verwandlung durchgemacht oder war es nur eine Stimmungsschwankung, die jeden Moment wieder ins Gegenteil umschlagen konnte? Er wusste es nicht, aber es gab nur einen Weg, es herauszufinden. "Guten Morgen", sagte er mit natürlichem Tonfall, aber sein Blick verriet Skepsis darüber, wie sie es auffassen würde. Sie blickte von der Bratpfanne auf und schenkte ihm ein leichtes Lächeln, dann hob sie das Kochgeschirr ab und kam damit zum reich gedeckten Esstisch. "Frühstück", sagte sie freundlich und wirkte dabei fast ein wenig schüchtern. Peter setzte sich und kniff gleichzeitig die Augen zusammen, konnte es ihr wirklich so gut gehen, wie sie aktuell aussah? "Alles in Ordnung, Süße?", hakte er vorsichtig nach. Wenn er Pech hatte, explodierte sie gleich wieder. Allerdings überraschte sie ihn. "Im Moment; ja", gab sie ihm zur Antwort und sah ihm dabei offen und aufrichtig in die Augen, wieder spielte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. Peter schenkte Kaffee ein, während sie Eier und Speck auf den Tellern verteilte. Peter musterte sie eindringlich, er wagte kaum zu fragen, was ihre Veränderung verursacht hatte, wollte sich aber doch nicht einfach damit abfinden. "Erzählst du mir, was in den letzten fünf Stunden passiert ist?", fragte er vorsichtig. Wieder lächelte sie sanft. "Ich hab Musik gehört, dann war ich Croissants kaufen und hab Frühstück gemacht und..." plapperte sie, als gäbe es kein besonderes Ereignis, auf das ihr Mann sie ansprach. "Nein, ich meine... was MIT DIR passiert ist?" "Hab ich doch gesagt, ich habe Musik gehört", sagte sie und blickte ihm liebevoll in die Augen. Inzwischen wurde dem Shaolin die Sache richtig unheimlich. "Und...?", gab er sich nicht geschlagen. Cat schmunzelte ein wenig, dann stand sie auf und ging zu der winzigen HiFi-Anlage auf der Arbeitsplatte. Mit kraus gezogener Stirn beobachtete Peter seine Frau. "Mir ist da was klar geworden. Ach, hör einfach zu", sagte sie und drückte den Abspielknopf. "We go on together for better or worse,
our history is too real to hate. Sie machte die CD wieder aus und schaltete auf Radio um, dann kam sie verlegen zu ihrem Mann. "Ich... ich hab einfach erkannt, dass ich dich verletzt und vor den Kopf gestoßen hab. Wir haben uns versprochen, zusammen alles zu meistern, und ich hab..." Peter wollte etwas sagen, aber sie legte ihm die Hand auf den Mund. "Naja, ich habe einfach festgestellt, dass ich ungerecht zu dir war. So schlimm es ist, du bist für mich da. Ich dachte halt irgendwann, wie oft soll ich noch sagen, dass es weh tut und dass ich manchmal das Gefühl habe, dass ich es nicht schaffe. Ich konnte mich ja nur wiederholen und nicht ausdrücken, wie ich mich fühle. Ich dachte, dass es nichts bringt, dass du mir nicht helfen kannst, dass... ach keine Ahnung! Es tut mir so leid, Honey! Ich liebe dich! Verzeihst du mir?" Sie stand mit nervös verknoteten Fingern und schüchtern eingezogener Lippe vor ihm und sah auf ihn herunter. Peter strahlte sie an und stand auf. Fest legte er seine Arme um ihre Schultern und hielt sie, dann drückte er ihr einen liebevollen und dankbaren Kuss auf die Lippen. "Danke", wisperte er leise, "danke! Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht und wusste nicht mehr, was ich anstellen sollte. Ich liebe dich auch!" Wieder küssten sie sich. "Dann lass uns weiter essen", sagte sie nach einer ganzen Weile verlegen und lächelte ihm zu. Dem Shaolin wurde warm ums Herz, wenn er sie jetzt aus tiefster Seele lachen sah, auch wenn sicherlich der Schatten der Trauer noch darauf lag. Aber er hoffte, dass sie nun endlich anfangen konnte, den Schmerz zu verarbeiten und wirklich damit klar zu kommen.
Hämmernder Kopfschmerz ließ Kermit aufwachen. Ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle, während er sich in seinem Klappstuhl aufrichtete und dabei die leere Whiskeyflasche mit dem Fuß umstieß. Es war mittlerweile wieder hell; und auch die Schmerzen in seinem Rücken verrieten ihm, dass er viele Stunden in dieser unbequemen Haltung auf dem Stuhl zugebracht hatte. Er beugte sich vor und ließ sein Gesicht in den Händen verschwinden. Es donnerte höllisch in seinem Schädel, mit jedem Herzschlag pulsierte der Schmerz. Es dauerte eine ganze Weile in dieser Position, bis er realisierte, wo er war. Und warum er dort war. "Oh Gott", murmelte er leise in seine Hände. Gestern Abend war die Idee mit dem Whiskey noch gut gewesen, jetzt aber quittierte ihm der Kopfschmerz die Aktion. Zudem war sein innerer Schmerz immer noch nicht getilgt. Ganz im Gegenteil, es wirkte jetzt alles noch viel schlimmer. Er fühlte sich elend, so als hätte er etwas Verbotenes getan, als er seine Qual mit Alkohol ertränkt hatte. Jetzt schäumte sie wieder auf, kam mit jedem Impuls seines Kopfschmerzes, mit jedem Herzschlag. Das Messer der Schuld bohrte sich tiefer und tiefer in sein verletztes Inneres. Wie ein Film lief die Szene im Gerichtssaal vor seinen Lidern ab, wieder stand er tatenlos da und sah zu, wie Karen von Alex Woods erschossen wurde. Hätte er ihn doch als ersten erschossen, hätte er etwas unternommen, dann wäre Karen noch an seiner Seite. Dann wäre er noch zu Hause, bei seinen Freunden, bei Peter und Paul. Aber diesen Weg hatte er sich verbaut. Sie würden ihn dort nicht mehr haben wollen, nach allem, was passiert war. Sie verachteten ihn sicherlich und waren froh, dass er fort war. Und vermutlich war es das Beste, wenn er niemals wiederkam. "Griffin!", bellte Mekapu an der Außenseite seines Zeltes und riss den Söldner damit aus seinen dunklen Gedanken. Er erhob sich und hielt sich den Schädel, dann zog er das Holster über und steckte er den Eagle ein. Ohne Jackett trat er ins Freie, wo ihm das grelle Sonnenlicht weiteren Kopfschmerz zufügte. "Was gibt’s?", knurrte er unwillig. Mekapu musterte ihn skeptisch. "Ich hoffe, es hat ihnen geschmeckt. Wie sie aussehen, ist die Flasche leer, also können wir jetzt zu den wichtigen Dingen kommen. Dort ist der Plan", sagte er und zeigte auf den kleinen Tisch etwa fünf Meter von ihnen. Dort, wo sie auch in den letzten Tagen immer ihre Vorgehensweise besprochen hatten. Kermit folgte dem Rebellenführer wortlos zu der Karte und stellte zu seinem eigenen Erstaunen fest, dass es diesmal eine andere war, die er noch nicht gesehen hatte. Anstatt eines einfachen Geländeplans lag jetzt ein gedruckter Plan der Armee vor ihm, der die üblichen militärischen Zeichen für verschiedene Truppen und Orte enthielt. "Wo haben sie den her?", fragte Kermit fachmännisch nach. Es war keine Neugier oder Interesse, sondern es ging einzig darum, die Sicherheit der Quelle beurteilen zu können. Es wäre nicht das erste Mal, dass Gegner mit einer bewusst falschen Karte getäuscht und in eine Falle gelockt wurden. "Keine Angst, der Plan ist echt. Aber die Herkunft absolut vertraulich", sagte er knapp. Kermit nickte, gleichzeitig vermutete er, dass Mekapu einen Insider bei der Armee hatte, von dem der Söldner bisher noch nichts wusste. Aufmerksam folgte er jetzt den Ausführungen seines Chefs und war dankbar für die Ablenkung. "Also, die Truppen kommen hier entlang direkt auf unsere Stellung hier zu. Das Problem an der Sache ist, dass die Jungs kaum noch Waffen haben, die Lieferung kommt erst in drei oder vier Tagen. Von uns aus ist es ein halber Tag, wir können es noch rechtzeitig schaffen. Allerdings nicht mit dem ganzen Camp, sondern nur mit ein paar Mann und einem Gefährt mit entsprechenden Waffen." Kermit nickte nachdenklich. "Wie viele Leute sind in der Station?" "Etwa vierzig. Und die Armee kommt laut der Karte mit achtzig Mann. Das wird eine ganz fiese Geschichte", sagte er noch und sah Kermit dann forschend an. "Sie wollen, dass ich mich auf den Weg mache?", war die einzige Nachfrage dazu. Er kannte die Mechanismen gut genug und konnte meistens sehr schnell ahnen, was man von ihm wollte. "Sie und zwei meiner besten Leute. Hano und Jonte. Sie beladen grade den Wagen. In einer halben Stunde brechen sie auf", wies er ihn an. Kermit nickte und ging dann zurück zu seinem Zelt, seine Kopfschmerzen waren zum Glück weitestgehend verflogen. Während er das Maschinengewehr nachguckte fiel sein Blick auf das Notebook, es war mittlerweile aus, der Akku hatte den Geist aufgegeben. "Auch gut", murmelte er leise und war innerlich froh drum, nicht mehr in die Versuchung zu kommen, doch noch sein Emailprogramm anzumachen. Jetzt musste er zwangsweise warten, bis sie in ein Lager mit Stromgenerator umzogen, bis dahin war er vor der Außenwelt und seinen eigenen Hoffnungen sicher. Er verstaute den Rechner in der Tasche und griff dann nach dem Gewehr, um es mit raus zum Wagen zu nehmen. Aber zunächst zündete er sich eine Zigarette an und trank einen Kaffee, den ihm eine ältere Frau angeboten hatte. Die Mission, in die er von Mekapu geschickt wurde, glich einem angekündigten Selbstmord. Wenn die Truppe der Armee tatsächlich die doppelte Stärke hatte und sie so weit vorgerückt waren, wie sie laut Plan sollten, dann würde es verdammt eng werden. Dazu kam, dass die Rebellen bei weitem nicht mit so guten und starken Waffen ausgerüstet waren, wie die Staatsdiener. Kermit schnippte die Kippe gleichgültig weg. Wenn heute sein Todestag sein sollte, dann war es das eben. Vielleicht war der Tod tatsächlich das einzige Heilmittel für den Schmerz, den er empfand, vielleicht war es das Beste für diese Welt, wenn Kermit Griffin keine Menschen mehr gefährden konnte. Er schüttelte den Gedanken soweit ab, wie er konnte und zog eine neue Zigarette aus der Schachtel. Er beobachtete das Treiben auf dem freien Platz, der von Zelten umringt war. Eine Mutter saß auf einem Stuhl und tröstete ein Kind, ein paar Männer reinigten ihre Waffen, andere saßen zusammen und diskutierten. "Griffin", sagte einer der beiden jungen Männer, die Mekapu ihm zugeteilt hatte und winkte ihn zu dem alten Kleinlastwagen. Langsam setzte er sich in Bewegung und stieg dann in das Gefährt. Hano steuerte, Jonte saß in der Mitte. Kermit saß an der Beifahrertür und starrte aus dem Fenster, während sich die beiden in ihrer Muttersprache unterhielten und hektisch sprachen und gestikulierten. Der Söldner wusste, dass der Anführer der Rebellen der einzige war, der Englisch sprach, was die Kommunikation bei der kommenden Kampfsituation nicht unbedingt vereinfachen würde. Stundenlang fuhren sie durch die sengende Hitze auf Schleichwegen, die Mekapu den Männern offensichtlich vorher eingebläut hatte. Kermit aber beschränkte sich darauf, aus dem offenen Fenster zu sehen und zu rauchen. Ab und an nippte er an der Wasserflasche, die im Jonte irgendwann angeboten hatte, ansonsten hing er seinen eigenen, rabenschwarzen Gedanken nach. Je länger er darüber nachdachte, umso
mehr begrüßte er die Situation, in die er von seinem Auftraggeber
geschickt wurde. Ein heißer Kampf auf Leben und Tod, was wollte
er aktuell mehr. So viele Mistkerle wie möglich in die Hölle
schicken, seinen eigenen Schmerz mit dem noch üblerer Menschen ersticken.
Kermits Selbsthasstirade wurde durch seinen Söldnerinstinkt unterbrochen. Hatte sich da etwas in dem Busch bewegt? Mit einer schnellen Handbewegung und einen Fingerzeig zu der entsprechenden Stelle versuchte er, den zwei jungen Männern mitzuteilen, dass er etwas gesehen hatte. Der Fahrer aber fuhr unbeeindruckt weiter, nickte nur und plapperte etwas, das Kermit nicht verstand. Aber er vermutete, dass es sich um einen eigenen Wachposten handeln musste, wenn seine zwei Kameraden sich nicht dafür interessierten. Dann aber musste Hano heftig bremsen, weil zwei Männer auf den schmalen Weg gesprungen waren. Kermit besah sie sich die zwei Figuren, sie trugen die Kleidung der Rebellen, aber ihre Waffen sahen anders aus. Seine zwei Weggefährten aber grinsten und feixten über die Kontrolle, sie schienen sich absolut sicher und in Gegenwart von Freunden zu fühlen. "Das ist eine Falle!" sagte Kermit hart, irgendein Instinkt sagte es ihm, die Waffen, die Haltung, der Blick. Er konnte nicht sagen, was es war, aber er war sich seiner Sache sicher. Die zwei Wachposten aber wiesen sie an, auszusteigen, was Hano und Jonte prompt völlig unbekümmert taten. Kermit sah keinen Weg, um sie zu warnen, er verstand sie nicht und sie ihn nicht, deshalb blieb ihm nichts, außer möglichst sich selbst zu retten. Hier von zwei als Rebellen verkleideten Soldaten niedergeschossen zu werden war nicht das, was er sich unter einem Kampf auf Leben und Tod vorstellte. Er griff nach dem langen Haltegurt seines MG und hängte es sich über die Schulter, ehe auch er aus der Fahrerkabine sprang. Langsam folgte er 'Mekapus besten Männern' und wanderte unauffällig immer näher an die dichten Büsche am Wegesrand. Hano und Jonte schienen die beiden Posten begrüßen zu wollen und sprachen sie fröhlich an, aber in deren Gesichtern zuckte nicht mal ein Muskel, hart und böse starrten sie auf die drei Männer, dann begann einer von ihnen, etwas zu brüllen. Kermit beobachtete, wie sich seine zwei Gefährten überrascht und unsicher ansehen, dann hoben die Wachposten ihre Gewehre. Mit einem Hechtssprung in das dichte Gebüsch neben sich rettete er sich vor den Dauerfeuer, das knapp über seinem Kopf die saftig grünen Blätter in Konfetti umwandelte. Er hörte die kurzen, erstickten Schreie der zwei jungen Männer, dann die Rufe der Soldaten. Plötzlich raschelte es überall, er hörte Stimmen und schwere Stiefel, offenbar gab es eine Verstärkung. Und genau die würde jetzt Jagd auf ihn machen. Ein diabolisches Grinsen huschte über sein Gesicht; ja, so hatte er sich das vorgestellt. Aber einfach würde er es seinen Feinden nicht machen! In gebückter Haltung preschte er vorwärts, über seinen Kopf sausten Gewehrkugeln, Äste schlugen gegen seine Beine und seinen Körper. Immer wieder drehte er sich im Lauf halb um gab ein paar Schüsse mit der Desert Eagle ab. Im Augenwinkel zählte er grob geschätzt zehn Mann, die ihm dicht auf den Fersen waren. Etwa zwanzig Meter trennten ihn von den Soldaten, die vermutlich schon das ganze Camp, zu dem sie wollten, niedergemetzelt hatten. Kermit fühlte Wut in sich aufsteigen, auch diesen Menschen hatte er nicht helfen können. Er war zu spät gekommen. Kermit schob sich hinter einen dicken Baum, was sollte er vor ihnen wie ein Kaninchen weglaufen, früher oder später würden sie ihn doch erwischen. Die Schüsse auf ihn donnerten noch immer durch die heiße Luft und verstummten erst einen Moment nachdem er in Deckung gegangen war. Hastig verstaute er die Desert Eagle im Holster und zog das schwere Maschinengewehr nach vorne, dass am langen Haltegurt auf seinem Rücken gehangen hatte. Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, bis seine Gegner ihn erreichten. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss er die Augen, um noch einmal Kraft zu tanken. Das, was er vorhatte, glich einem Himmelfahrtskommando, aber was hatte er schon zu verlieren, was nicht schon verloren war? Außer seinem Leben, dass sich aktuell zu leer und wertlos anfühlte, um beschützenswert zu sein. Er öffnete die Lider hinter der Brille, starrte hart und undurchdringlich vor sich, dann drehte er sich aus der Deckung, bereit jeden von diesen Mistkerlen mit Freuden zu erschießen. Er hielt den Abzug des Gewehrs gedrückt, die Waffe ratterte laut und stark in seinen Händen, während er sie nach links und rechts schwenkte, um die völlig überraschten Männer zu treffen. Seine Feinde suchten hastig die Deckung und unterbrachen ihren Kugelhagel auf ihn für einen Moment. Mit ausdruckslosem Gesicht machte Kermit feste, große Schritte auf sie zu, unablässig feuernd. Eine Kugel rauschte direkt an seinem Ohr vorbei und verfehlte ihn nur knapp. Der frühere und nun wieder aktive Söldner drehte sich zu dem dicken Baum, hinter dem der Schütze saß. Als er wieder den Kopf und den Schussarm vorstreckte, hielt Kermit drauf und traf den Soldaten mehrfach, bevor dieser tot auf den Boden schlug. Es wurde still um ihn. Das Maschinengewehr im Anschlag schlich er weiter auf die Deckung der Armee zu und war jederzeit schussbereit. Er glaubte, alle erwischt zu haben, aber man konnte sich nie sicher sein. Hinter einem dichten Farn sah er eine Bewegung, aber nichts Bestimmtes. Lautlos schlich er darauf zu, setzte seine Füße mit Bedacht voreinander, jederzeit damit rechnend, dass ein Schütze auf ihn zusprang. Ein letzter großer Schritt und er schwang das MG herum, blickte aber nur in die Augen eines kleinen Pumas, der sich offensichtlich auf das Schlachtfeld verlaufen hatte. Er fauchte den Menschen kurz an, dann sprang er in großen Sätzen davon und verschwand im Dickicht. Kermit pirschte sich weiter vor, horchte in die von Naturgeräuschen belastete Hitze. Er hörte ein Keuchen, ganz leise, irgendwo zu seiner Linken, bei einem dicken Baumstumpf. Wieder schlich er vorwärts. Nach wenigen Metern sah er Füße in schweren Armeestiefeln, Beine in einer khakifarbenen Hose, dann eine Schulter, die an dem Stumpf lehnte. Seine Hand lag mit einer Pistole darin auf der Erde neben ihm. Schwer hob und senkte sich die Brust des Mannes, als Kermit mit dem MG im Anschlag vor ihn trat. Mit halb geöffneten Augen blickte der Soldat ihn an, auf der rechten Halsseite klaffte eine große Wunde, die er mit einer Hand versuchte abzudrücken, aber zwischen den einzelnen Fingern quoll das Blut gleichmäßig hervor. Kermit war sofort klar, dass die Halsschlagader getroffen sein musste, der Knabe hatte keinerlei Überlebenschancen. Sie starrten sich eine ganze Weile in die Augen, bis der Söldner etwas in dessen Blick aufblitzen sah, dann hob er langsam den Arm mit der Waffe. Zittrig ging er Arm immer höher, mit der letzten im Körper verbliebenen Kraft versuchte er offensichtlich, Kermit zu erschießen; oder diesen dazu zu zwingen, ihn zu erschießen. Der Söldner zögerte. Das war nicht, was er wollte. Der Mann war im Grunde wehrlos, dies war sein letzter Akt der Verzweiflung und des Wissens über seinen baldigen Tod. Er hob den Arm weiter, als Kermit plötzlich gegen die Hand trat und die Waffe damit außer Reichweite beförderte. Er wusste, dass er dem Soldaten damit den schlimmeren Tod bescherte, anstatt ihn mit einer gezielten Kugel in den Kopf schmerzfrei ins Jenseits zu befördern, aber dennoch konnte er es nicht. Dafür war noch zu viel Mensch in ihm verblieben. "Tut mir leid", murmelte er leise, drehte sich rum und verließ den Sterbenden. Inzwischen war er sich sicher, dass er ansonsten allein war. Die Sekunden, die er bei dem verblutenden Mann verbracht hatte, wären eine Einladung für jeden verbliebenen Feind gewesen, ihn von hinten zu erschießen. Das wurde ihm jetzt erst bewusst, aber dennoch belastete es ihn nicht. Seelenruhig lud er das Gewehr nach, sicherte es und hängte es wieder auf seinen Rücken. Er zog seine Pistole aus dem Holster und ließ sie neben seinem Bein schwingen, unbewaffnet konnte er nicht zurück zum Lager der Rebellen gehen, dafür war die Wahrscheinlichkeit eines Heckenschützen zu groß. Während er das Magazin der Desert Eagle überprüfte, hörte er hinter sich ein Knacken. Erschrocken fuhr er herum und sah den Mann mit der blutenden Halswunde bäuchlings auf dem Boden liegen, seine Pistole in der Hand und auf ihn gerichtet. Seine Augen wurden hinter den grünen Gläsern weit, der Kerl hatte es tatsächlich mit letzter Kraft zu seiner Waffe geschafft. Kermit indes hielt die Eagle in der rechten, das Magazin in der linken Hand; er war völlig wehrlos. Dann hörte er den Knall der Pistole und fühlte den Schmerz in seiner Brust, er spürte, wie sein Körper nach hinten geworfen wurde und auf dem dicht bewachsenen Boden weich aufschlug. Ein paar Sekunden konnte er bei Bewusstsein bleiben; genug, um sich zu fragen, ob es sich so anfühlte, wenn man starb? Ob sich Karen so gefühlt hatte? Er schloss die Augen und ließ sich bereitwillig in die Dunkelheit entführen, in der er sich von allen seinen Freunden verabschiedete.
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