Gut zwei Stunden später, in der die Anspannung fast bis ins Unerträgliche anwuchs, gab Carmen das Zeichen zum Anhalten. Cara warf ihr einen fragenden Blick zu. Für sie sah dieses Waldstück und die Felswand, die sich rechts neben ihnen erhob auch nicht anders aus, wie die Gegend, die sie hinter sich gelassen hatten. Zwar war Carmen, nun da sie sich für eine Seite endgültig entschieden hatte, wesentlich gesprächiger geworden, aber Caras Misstrauen ihr gegenüber war nicht verschwunden. Ein Blick auf Kermit, der neben ihr ging bestätigte ihr, dass es ihm auch nicht anders ging. Einzig Caine und Peter schienen zuversichtlich zu sein, was Carmen anbelangte. Innerlich musste Cara sogar heimlich grinsen, denn nicht nur ihr war aufgefallen, dass Peter Carmens Hand während ihrer Wanderung kein einziges Mal losgelassen hatte. Fast wünschte sie sich, Kermit hätte dasselbe mit ihrer Hand getan, doch die unsichtbare Wand, die ihr Vertrauen gegenüber Kermit umgab, war noch nicht vollständig niedergerissen, so dass sie automatisch einen gewissen Abstand einhielt. Kermit hatte dies stillschweigend akzeptiert und ihr nun ab und an über eine Wurzel oder einen umgestürzten Baumstamm geholfen. "Der Wald endet hier, es sind nur noch wenige Meter, dann werden wir das Gebäude mit dem Durchgangskristall erreichen", eröffnete Carmen leise das Gespräch. "Durchgangskristall? Ich dachte, es handelt sich um ein Portal", warf Peter ein. "Der Kristall ist die Kraft, die dieses Portal offen hält oder schließt, mehr weiß ich leider auch nicht darüber", entgegnete Carmen, "und", sie zögerte einen Moment, "soweit ich weiß ist das Gebäude scharf bewacht." "Das wird kein Problem sein", erwiderte Kermit grimmig und tätschelte den Eagle im Holster. Caine warf Kermit einen strafenden Blick zu. Er wusste, so einfach würde das nicht werden. "Ergo brauchen wir nun nur noch einen Plan", sprang Peter die Bresche. "Ein Plan wird uns nichts nützen, weil niemand von uns weiß, was uns im Inneren erwartet", warf Caine ein. Peter schaute zu Carmen hinunter und drückte ihre Hand aufmunternd. "Doch, sie weiß es." Carmen schüttelte verlegen den Kopf. "Nein, leider kann ich euch in diesem Falle auch nicht weiter helfen, denn ich war noch nie im Inneren dieses Gebäudes." "Warum nicht?", erkundigte sich Peter erstaunt. Carmen wand sich unangenehm berührt. "Weil der Zutritt nur, hm, wie soll ich sagen, höhergestellten Personen gestattet ist und natürlich den Wächtern. Ich bin bzw. war nur ein kleines Licht in der Organisation." Peter ließ ihre Hand los und fuhr sich durch die Haare. "Na super. Um es kurz zusammen zu fassen, stehen wir hier mal wieder vor etwas, was wir nicht kalkulieren können. Wir wissen nur, dass die Sing Wah uns sicherlich schon erwarten." Carmen warf leise ein. "Möglich, dass es mir gelungen ist seit dem Angriff euren genauen Aufenthaltsort vor ihnen zu verschleiern, doch sicher bin ich mir nicht. Wenn wir Glück haben, hat es funktioniert." "Das ändert aber nichts daran, dass es sich bei unserem Vorhaben um eine Kamikaze Aktion handelt", erwiderte Peter. Niemand widersprach ihm. Er hatte die Sache auf den Punkt gebracht. Die Anspannung, sofern es möglich war, wuchs noch um einige Grad an. Cara konnte nicht verhindern, dass ihre Hände feucht wurden und anfingen zu zittern. Fast erleichtert registrierte sie, wie Kermit ihre Hand ergriff und sie aufmunternd drückte. Ein dankbarer Blick streifte ihn und er lächelte ihr zu. Peter unterbrach den Moment. "Und was tun wir jetzt?" Zu seiner Überraschung ließ sich Caine zu Boden gleiten und meinte, "Ihr ruht euch aus, ich werde meditieren." Seine Worte hatten so bestimmt geklungen, dass niemand wagte zu widersprechen. Das Viergespann machte er sich an der Felswand gemütlich, froh eine Weile Rast zu bekommen. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Zum einen wollten sie Caine in seiner Meditation nicht stören und zum anderen waren sie viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Keiner fühlte sich besonders wohl in seiner Haut. Die Unsicherheit über das, das vor ihnen lag, legte sich wie ein Schleier über die Wartenden. Gut eine halbe Stunde später erhob sich Caine grazil aus seiner sitzenden Position. "Wir müssen jetzt gehen", meinte er ohne irgend eine Erklärung abzugeben und ging prompt los. Die anderen erhoben sich hastig und folgten ihm, wobei die Verwunderung ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben war. Peters Versuch eine Frage zu stellen, wurde von Caine mit erhobener Hand einfach unterdrückt. Tatsächlich begann sich der Wald nach knapp 100 Metern immer mehr zu lichten. Die Bäume wurden weniger, das Felsmassiv zu ihrer rechten blieb. Schließlich hörten die Bäume ganz auf und sie befanden sich vor einer weitausschweifenden flachen Ebene. Soweit das Auge reichte gab es keine Erhebung, nicht einmal mehr Gras wuchs auf dem nackten Boden. Und es gab auch kein Gebäude! Kermit regte sich zuerst. Wutentbrannt, wandte er sich Carmen zu. "Wusste ich doch, dass man ihnen nicht trauen kann. Heraus mit der Sprache, welches Spiel spielen sie hier?" Carmen zuckte zurück vor dem erbosten Mann, der wie ein Racheengel vor ihr stand. "I...ich verstehe das nicht, es müsste hier sein", stammelte sie total verwirrt. Kermit verzog die Lippen zu einem sardonischen grinsen. "Natürlich verstehen sie, was hier abgeht. Sie haben die ganze Sache doch eingefädelt", beschuldigte er sie und trat noch einen Schritt näher auf sie zu. Caine, der die letzten Sekunden mit geschlossenen Augen dagestanden hatte, öffnete sie wieder und trat zwischen die beiden. "Sie hat recht, das Gebäude ist hier." Kermit schnaubte verächtlich. "Ja sicher, ich kann ganz deutlich Disneys Märchenschloss vor mir sehen", meinte er sarkastisch. "Augen können getäuscht werden. Doch wer lernt mit mehr als nur den Augen zu sehen, der erkennt auch das Verborgene", erwiderte Caine und zeigte mit einer Hand nach vorne. "Wir müssen hier entlang." Kermit warf Carmen noch einen warnenden Blick zu, bevor er sich ohne ein weiteres Wort umdrehte, Cara an der Hand fasste und Caine nachfolgte. Peter schloss mit Carmen auf und schritt nun dicht neben den andere beiden her. "Kannst du denn auch irgend etwas erkennen?", flüsterte Cara Peter zu. Peter schüttelte den Kopf. "Nein ich..." Er brach mitten im Satz ab, seine Augen weiteten sich in Überraschung. "Ach du dickes Kanonenrohr!" Nicht nur dem jungen Priester erging es so. Auch all die anderen, mit Ausnahme von Caine, standen wie erstarrt da. Nur wenige Meter vor ihnen erhob sich, wie aus dem Boden gewachsen, ein riesiges, quaderförmiges Gebäude aus dem Grund. Das Mauerwerk bestand aus tiefschwarzem Gestein und das gesamte Gebäude strahlte eine Feindseligkeit und Bösartigkeit aus, die nicht einmal Kermit oder Cara entging. Vereinzelt konnte man winzige Fenster, die eher wie Schießscharten wirkten, in den Wänden erkennen. Kein Lichtstrahl brach sich an den Mauern, es war als ob dieser dunkle Koloss jedwede Art von Helligkeit absorbierte, um sie dann in abgrundtiefe Dunkelheit zu tauchen. Cara erschauerte und rückte unwillkürlich näher an Kermit und Peter heran. "Das Ding da jagt mir Angst ein", flüsterte sie. Kermit drückte ermutigend ihre Hand. "Da müssen wir nun durch, wenn wir wieder nach Hause kommen wollen", erwiderte er mit fester Stimme. "Keine Angst, wir schaffen es schon." "Hoffentlich", wisperte Cara, nicht gerade überzeugt von seinen Worten. Caine trat einen Schritt nach vorn. "Wir werden nun in das Gebäude gehen. Bleibt dicht zusammen und trennt euch nicht." "Paps, kannst du erkennen, was uns im Inneren erwartet? Ich habe keine Lust, direkt in die Arme der Sing Wah zu laufen", meinte sich Peter. Caine zuckte die Schultern. "Es ist vermessen anzunehmen, sie wissen nicht, dass wir kommen. Was uns erwartet weiß ich nicht. Wir müssen große Vorsicht walten lassen." "Na prima, genau die Antwort, die ich mir erhoffte hatte", beschwerte sich Peter. Schließlich straffte er sich, atmete tief ein und sagte: "Also worauf warten wir noch? Lasst uns endlich rein gehen." ******************** Das Innere des Gebäudes war genauso dunkel und trist wie das Äußere. Es herrschte ein trübes Dämmerlicht vor, das sogar Kermit dazu brachte, seine Sonnenbrille abzunehmen und in die Jackentasche zu verstauen. Eine seltsame Stille herrschte in der großen Eingangshalle. Genau genommen war es nur ein dunkler, großer Raum ohne Möbel oder andere Anzeichen, dass hier Jemand wohnte. Auch von anderen Personen war weit und breit nichts zu sehen, was Carmens Warnung, das Gebäude würde scharf bewacht werden, widersprach. Mehrere Türen führten von der Halle weg, doch das war schon alles, was sie erkennen konnte. Kermit spürte einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Sein Griff um den Eagle verstärkte sich. *Das ist alles irgendwie zu einfach.* Der Ex-Söldner erwartete jeden Augenblick von den Sing Wah angegriffen zu werden, doch es passierte nichts. Gerade dieses Nichts war es, das immer mehr an seinen Nerven zehrte. In stillem Einvernehmen folgten sie Caine, der schnurstracks auf eine der Türen zusteuerte und sie öffnete. Dies geschah noch mehrere Male. Immer tiefer führte Caine sie in das Gebäude hinein und noch waren sie keiner Menschenseele begegnet. Niemand der Anwesenden konnte sich der unheimlichen Gefühles erwehren, das sie mehr und mehr ergriff, je länger sie in dieser Lautlosigkeit umher irrten. Plötzlich stöhnte Carmen auf und krümmte sich zusammen als ob sie Schmerzen hätte. Peter beugte sich besorgt zu ihr herunter. "Was ist los?", flüsterte er. "Wir müssen ganz in der Nähe des Kristalls sein, ich kann die Schwingungen spüren", keuchte sie. "Es stimmt. Der Kristall befindet sich direkt hinter dieser Doppeltüre", stimmte Caine zu und deutete in die Richtung. "A…aber warum kann sie und auch du die Schwingungen spüren und ich nicht?", warf Peter ein. "Ich spüre nicht die Schwingungen, ich spüre nur die dunkle Kraft des Steines. Carmen ist die Einzige, die diese Schwingungen wahr nehmen kann, weil sie eine Sing Wah ist. Auch du kannst es spüren mein Sohn, du musst dich konzentrieren", erwiderte Caine, während er sich bückte und Carmen an der Schläfe berührte. Die junge Frau zuckte unter der Berührung zusammen, doch dann merkte sie erleichtert, wie der scharfe Schmerz in ihrem Inneren langsam nachließ. Dankbar sah sie zu Caine hoch und erhob sich mit Peters Hilfe aus ihrer knienden Position. "Konzentriere dich", wies Caine seinen Sohn an. Peter tat was ihm geheißen und schloss die Augen. Er atmete einige Male tief ein und aus und konzentrierte sich auf seine Mitte. Es dauerte nicht lange, bis er ein sanftes Vibrieren tief in seinem Inneren bemerkte, das langsam an Intensität und Stärke zunahm. Überrascht riss er die Augen auf. "Diese Vibration, ist es das?", erkundigte er sich. Caine nickte nur. "Seltsam, dass ich das nicht vorher bemerkt habe", meinte Peter mehr zu sich selbst. "Du warst zu sehr auf deine Umgebung konzentriert und hast nicht auf deine innere Stimme geachtet", rügte Caine milde. "Können wir dieses Gerede nicht abkürzen und endlich zur Sache kommen?", unterbrach Kermit rüde die Unterhaltung der beiden. Peter hob die Hände in Aufgabe hoch. "Schon gut, du hast ja recht. Nun ist wirklich nicht die Zeit für eine deiner Lektionen, Paps." "Um zu lernen ist es nie zu früh, oder zu spät", erwiderte Caine und verbeugte sich halb vor Kermit. "Und ich würde sagen, es wird endlich Zeit, dass wir hier heraus kommen. Also? Worauf warten wir noch?", erwiderte Kermit und ging demonstrativ die wenigen Schritte bis zur besagten Türe. Er drängte sich mit Cara dicht an die Wand, den Eagle im Anschlag und beobachtete wie Caine die Hand auf den Türknauf legte. Peter und Carmen pressten sich an die andere Seite. Die Türe öffnete sich mit einem leisen Ächzen, was die Anwesenden zusammen zucken ließ. Alle anderen Türen hatten sich geräuschlos geöffnet und geschlossen, nur diese hier nicht. Er war einfach nur seltsam so einen Laut in der Stille zu hören. Kaum hatte Caine die Türe geöffnet, ging Kermit in die Knie und spähte um die Ecke. "Es ist Niemand da", hörte er in diesem Moment Caine sagen und bevor er ihn zurück halten konnte, war dieser schon in den Raum getreten. Kermit folgte ihm leise fluchend, ein mehr als schlechtes Gefühl in seiner Magengegend. Die anderen drei folgten etwas langsamer nach, nur um Sekunden später wieder staunend stehen zu bleiben. Im Gegensatz zu alle den anderen Räumen, die sie bis jetzt durchwandert hatten, war dieser Raum kreisrund. Fünf Stufen führten vom Boden weg zu einer Art Empore oder Balkon, die den gesamten Raum umfasste. Auch war der Raum wesentlich höher, als alle anderen. Die gewölbte Decke hoch über ihnen konnte man in dem matten Dämmerlicht nur erkennen, wenn man sich ganz darauf konzentrierte. Das Herzstück des Raumes aber war ein bis an die Decke reichender, tiefschwarzer, spindeldürrer Obelisk der leicht zu schwanken schien und dabei ein milchig-graues Licht absonderte. Der Anblick war einfach nur absurd. Man hatte das Gefühl als würde der Stein jeden Moment einfach in sich zusammen fallen, so zerbrechlich wirkte er. Die Wirklichkeit allerdings sah ganz anders aus. Wenn man genau hinhörte, dann konnte man sogar ein leichtes Brummen wahr nehmen, das eindeutig von dem Stein ausging. Peter fasste sich als Erster. Seine Stimme klang unnatürlich laut und wurde von den hohen Wänden wiedergegeben. "Hier soll nun also das Durchgangsportal sein? Ich sehe hier nur den Stein." "Das Stein ist das Portal, mein Sohn", antwortete Caine. "Was, kein Buch? Kein sonstiger Hokuspokus? Kannst du uns wenigstens sagen, wie wir nun von hier weg kommen sollen? Oder willst du mir allen Ernstes weis machen, wir müssen einfach nur durch diesen Kristall gehen, oder was immer dieses Ding da darstellen soll." Caine zog missbilligend eine Augenbraue in die Höhe. "Wir müssen den Obelisk zerstören." Peter schaute seinen Vater an, als hätte er den Verstand verloren. "Wenn wir den Stein und damit das Portal zerstören, dann heißt das doch eher das genaue Gegenteil, nämlich dass wir in dieser Welt gefangen bleiben werden. Du machst Witze!" Caine erwiderte unbeeindruckt Peters flammenden Blick. "Der Obelisk muss zerstört werden, um den Bann der Sing Wah zu brechen", wiederholte er. Peter schüttelte, noch immer ein wenig ungläubig, den Kopf. "Dann ist es wohl kein Witz. Oh ich habe ja vergessen, du machst keine Scherze, Paps." Sinnend betrachtete er den Stein. Schließlich zuckte er die Schultern. "Okay, da dies hier nichts weiter als ein dünner, langgezogener Stein ist, dürfte es kein Problem sein, das Ding zu zerstören. Einige kräftige Fußtritte dagegen dürften reichen", meinte er und ging entschlossen auf den schwarzen Obelisk zu. Carmen warf sich in seinen Weg und hielt ihm am Arm fest. "Halt, Peter. Du darfst den Stein nicht berühren, oder du stirbst." Peter hielt mitten in der Bewegung inne und starrte auf Carmen herab. "Wie bitte? Das ist doch nur ein Stein." "Ein Stein aufgeladen mit negativer Energie. Wenn du mit deiner positiven Energie den Stein anfasst, dann wird dich die negative Energie zerstören. Peter, das musst du mir einfach glauben!", rief die junge Frau aufgeregt aus. Peter glaubte ihr aufs Wort. Die Angst um ihn, die er in ihren Augen entdeckte, konnte nicht gespielt sein. Er seufzte. "Na super. Und wie sollen wir den Stein dann bitte zerstören, wenn wir ihn nicht einmal anfassen können?" Carmen senkte den Kopf. "Das weiß ich leider auch nicht." "Die Antwort kann ich euch geben. Ihr könnt den Kristall überhaupt nicht zerstören. Ach, und willkommen in meinem Haus", ertönte hinter ihnen eine sehr zufrieden wirkende Stimme. Beim Klang der Stimme, zuckte Cara zusammen wie unter einem Peitschenschlag. Diese Stimme hatte sich in ihr gesamtes Sein regelrecht eingebrannt. In unzähligen Albträumen kam sie immer wieder vor. "Shin Tao", flüsterte sie tonlos.
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