Teil 4
Autor: Fu-Dragon
 

 

Kermit legte wortlos und in einer Rekordzeit die Strecke zum gemeinsam bewohnten Apartmentkomplex zurück. Er trommelte ungeduldig mit dem Fingern auf dem Lenkrad herum, während er wartete. Die ganze Zeit ging ihm durch den Kopf, warum sie unbedingt Annie sehen wollte. Im Delanceys hatte er seine Reaktion auf die Geschehnisse noch verbergen können, denn gerade bei Annie empfand er sich als besonders anfällig. Die toughe, kleine, blinde und mutige Frau hatte sich schon beim ersten Treffen, da war er gerade mal 21 gewesen, einen Platz in seinem Herzen erkämpft und er würde niemals zulassen, dass man der Frau seines langjährigen Kameraden und Freundes etwas antun würde, unbesehen der Person. In der Bar hatte er sich daher zwischen dem Beschützerinstinkt gegenüber Angel und Annie hin und her gerissen gefühlt, wobei ihm Peter da mit seinem Benehmen die Entscheidung abgenommen hatte, aber nun überwog klar die Sorge um Pauls Frau.

Er wurde aus den Gedanken gerissen, als Angel kurze Zeit später wieder erschien und eine kleine Schachtel in der Hand hielt. Diesmal sprintete er nicht aus dem Fahrzeug, um ihr die Türe aufzuhalten, er beschränkte sich lediglich darauf, ihr einen nachdenklichen Blick zuzuwerfen, konnte aber leider nicht erkennen, was in ihr vorging. Kaum dass sie Platz genommen hatte, startete er den starken Motor und preschte los.

Die ersten Minuten herrschte auch auf dem Weg zu den Blaisdells angespanntes Schweigen. Beide schienen Zeit zu brauchen, um mit den sich überschlagenden Ereignissen zurecht zu kommen. Angel fasste sich schließlich ein Herz und meinte leise: "Ich frage mich nur, wie ich vergessen konnte, gleich nach Annies Adresse zu suchen. Normalerweise erledige ich Aufträge, beziehungsweise Gefallen, sofort. Muss wohl an der gestrigen Aufregung mit dem Überfall liegen." Sie seufzte frustriert. "Fakt ist, da habe ich so richtig Mist gebaut."

"Du konntest das alles nicht wissen", meinte Kermit lahm.

Angel sah ihn prüfend von der Seite an. "Paul bedeutet dir auch sehr viel, nicht wahr?"

Kermit nickte nur. Der Abend entwickelte sich gänzlich anders, als er es sich vorgestellt hatte. Dass Angel mit Paul in Kontakt stand, gefiel ihm ganz und gar nicht. Nicht, weil er ihr den Kontakt missgönnte, sondern er sich fragte, was für eine Beziehung die beiden teilten. Wusste sie über Pauls Vergangenheit als Ex-Söldner Bescheid? Womöglich war er sogar wieder ins Business eingestiegen bei seiner Jagd nach den Dämonen seiner Vergangenheit. Wie passte nun sie in dieses Schema? Wie und woher konnte sie Paul überhaupt kennen? War das hier womöglich eine gut angelegte Falle, um an die Blaisdell Familie heran zu kommen und Angel spielte den Lockvogel? Gegen eine gute Bekanntschaft mit Paul sprach, dass sie weder wusste, dass der ehemalige Captain hier als Polizist gearbeitet hatte, noch sie Peter kannte. Kermit wusste, wie gerne Paul von Peter sprach und dass er ihn augenscheinlich ihr gegenüber niemals erwähnt hatte, schürte Kermits Misstrauen nur noch.

Er konnte nicht umhin, ihr immer wieder einen forschenden und abschätzenden Seitenblick zuzuwerfen, der Angel dazu veranlasste zu fragen: "Was ist los mit dir, Kermit?"

"Wer bist du wirklich, Angel?", brach es aus ihm hervor.

"Das habe ich dir gestern Abend schon beantwortet, falls du dich erinnerst." Sie verdrehte entnervt die Augen und warf die Arme in die Luft. "Mein Gott, was ist nur plötzlich mit euch allen los? Konnte ich wissen, dass Paul euer ehemaliger Captain ist? Er hat mir nichts davon erzählt. Ich tue ihm doch nur einen Gefallen. Aber ihr tut so, als hätte ich wer weiß was angestellt."

Kermit konnte es nicht unterlassen, eine Warnung auszusprechen. So sehr er Angel auch mochte, seine Loyalität und Freundschaft Peter und Annie gegenüber war eindeutig größer. Er würde die Blaisdells beschützen, komme was da wolle und ungeachtet aller Folgen. Das war er seinem langjährigen Freund Paul einfach schuldig.

"Angel, ich sage dir nur eines. Falls das hier eine Falle ist, dann werde ich dir höchstpersönlich deinen hübschen Kopf von den Schultern blasen!", meinte der Detective mit viel Nachdruck in der Stimme, die deutlich machte, wie ernst er es meinte.

Die blonde Frau zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Ihr Kopf ruckte hoch.

"Wie bitte? Du glaubst ich würde...ich könnte... Na vielen Dank auch!", rief sie aus.

Tränen traten in Angels blaue Augen und liefen über ihre Wange. In einer ärgerlichen Geste wischte sie sie weg. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät schaute sie zur Seite, so dass Kermit noch ihren zutiefst verletzen, enttäuschten und gedemütigten Blick erhaschen konnte.

Der Ex-Söldner bedauerte seine Worte in dem Moment, als er sah, wie heftig sie darauf reagierte. Irgendetwas sagte ihm, dass sie unmöglich so gut schauspielern konnte, doch es war zu spät, das Gesagte zurück zu nehmen. Mit einer einfachen Entschuldigung war es in diesem Fall wohl nicht getan, so dass es Kermit nicht einmal versuchte. Eines jedoch wusste er mit Gewissheit: Der Abend entwickelte sich mehr und mehr zu einer Katastrophe.

*******************

Angel war selten so froh gewesen, ein Ziel zu erreichen. Obwohl ihr klar war, dass ihr ein paar anstrengende Stunden bevor standen, tauschte sie diese Anstrengung mit Freude gegen die üble Stimmung in der Enge des Wagens ein, die man fast nicht mehr auszuhalten konnte. Im Moment wünschte sie sich nur weit, weit weg von allem, ganz speziell von Kermit.

Peters Stealth parkte schon vor dem Haus und Kermit stellte den Trans Am direkt dahinter ab. Als sie die Haustüre erreichten, wurde sie schon von innen aufgerissen. Peter erschien im Türrahmen.

"Wo wart ihr nur so lange? Wir warten schon eine ganze Weile auf euch", beschwerte er sich.

Kermit brummte etwas und schob sich an Peter vorbei. Angel zuckte nur die Schultern, sie fühlte sich nicht sehr wohl in ihrer Haut.

Peter führte die Beiden direkt ins Wohnzimmer, wo eine zierliche Frau mit dunklen Gläsern schon auf sie wartete. Eben begrüßte Kermit sie mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange.

Annie drehte sich herum. "Ah und hier ist unser anderer Gast", sagte sie und streckte Angel ihre Hände entgegen, die sie ergriff.

"Hallo, Mrs. Blaisdell. Ich hoffe, ich störe sie nicht allzu sehr", antwortete Angel.

"Aber nein und bitte nennen sie mich Annie. Herzlich willkommen in der Blaisdell Residenz."

Angel wunderte sich mit welcher Ruhe Annie ihre Ankunft aufnahm. Sie hatte eigentlich eine andere Reaktion erwartet, zumal Paul sie vorgewarnt hatte.

"Gerne, Annie. Ich freue mich, sie endlich kennen zu lernen."

"Bitte setzen sie sich doch und verraten sie mir, woher sie mich kennen. Peter wollte nichts darüber erzählen."

Angels Kopf ruckte in die Höhe, ebenso wie der von Kermit. Von beiden Seiten erntete der junge Cop einen bösen Blick.

"Sie wissen gar nicht warum ich hier bin?", fragte Angel verwirrt.

"Nein, Peter wollte mir nichts verraten. Ich bemerke nur, dass er ziemlich aufgeregt wegen ihnen ist."

"Das ist ja auch kein Wunder", brummte Kermit.

Annie tätschelte aufmunternd Angels Hand. "Also nun heraus mit der Sprache, sie tun hier alle so geheimnisvoll."

Angel rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. "Ich habe eine Nachricht für sie...von Paul."

Annie wurde kalkweiß hinter ihren Gläsern. "Mein Gott, ist er..."

"Oh Gott, nein. Annie, es geht ihm gut."

Annies Finger zitterten so sehr, dass Angel sie ohne groß nachzudenken umfasste und sie beruhigend drückte.

"Wann haben sie ihn getroffen und vor allen Dingen wo?", wollte Pauls Frau mit zitternder Stimme wissen.

"Vor ein paar Wochen, den Ort kann ich ihnen leider nicht sagen. Er bat mich darum, dies geheim zu halten und ich werde mich auch an mein Versprechen halten."

"Geht es ihm wirklich gut?"

"Ja, das tut es. Laut seiner Aussage hat er ein paar Kilos verloren, aber ansonsten erfreut er sich bester Gesundheit. Er hat mir etwas mitgegeben, das ich ihnen geben soll und ich soll ihnen noch etwas ausrichten..." Angel machte eine kleine Pause. Die Gefühle, die sie von Annie empfing konnte sie fast nicht verarbeiten. "Er kommt bald nach Hause, Annie."

"Er kommt? Oh mein Gott." Annie liefen offen die Tränen über die Wangen. "Er kommt nach Hause, wirklich?"

Angel nahm die ältere Frau spontan in die Arme und hielt sie beruhigend an sich gedrückt.

"Ja, Annie. Er hat mir gesagt, wenn alles glatt geht, dann kommt er bald zurück. Sehr bald."

Eine ganze Weile herrschte Stille in dem Raum, nur unterbrochen von Annies heftigem Schluchzen und leisen Geräuschen von Peter, der seine Tränen auch nicht mehr zurückhalten konnte. Selbst Kermit griff unter seine grünen Gläser und rieb sich über die Augen.

Als sich Annie einigermaßen beruhigt hatte und Angel losließ, meinte sie: "Erzählen sie bitte, wie haben sie Paul getroffen."

"Das hat später noch Zeit. Ich möchte ihnen zuerst noch das überreichen, was Paul mir mitgegeben hat."

Mit diesen Worten griff sie nach der Schachtel, die ungeöffnet auf dem Tisch lag und legte sie Annie in den Schoss.

"Was ist da drin?", erkundigte sie sich.

"Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie aufgemacht", erwiderte Angel ehrlich.

"Dann öffnen sie es jetzt und erzählen sie mir, was drin ist."

Angel kam der Bitte Annies nach und öffnete die Schachtel, scharf beobachtet von Peter und Kermit. Mehrere Briefumschläge kamen zum Vorschein.

"Es sind Briefe. Jeder ist mit Namen beschriftet. Kelly, Kermit, Peter, Caroline und noch ein dickerer für sie, Annie", las sie vor.

Angel überreichte den entsprechenden anwesenden Personen die Briefumschläge. Annies Umschlag enthielt statt eines Briefes ein Band.

Kermit erhob sich aus seinem Sessel und ging zu Annie. "Ich bringe dich in das Arbeitszimmer, dort kannst du dir das Band in aller Ruhe anhören", meinte er und führte sie in die entsprechende Richtung.

Peter hatte seinen Brief schon heraus genommen und war am lesen. Tränen liefen über seine Wangen und seine Hände zitterten ein wenig. Angel konnte seine Emotionen gut verstehen. Obwohl sie äußerlich vollkommen ruhig wirkte, tobte in ihrem Inneren ein reines Gefühlschaos.

Kermit kehrte zurück und öffnete den für ihn bestimmten Umschlag. Aus seiner Miene konnte sie rein gar nichts entnehmen.

Mehrere Minuten verstrichen in Stille. Beide Männer schienen ihre Nachrichten gleich mehrmals zu lesen. Angel erkundigte sich nicht nach dem Inhalt, das ging sie nichts an. Sie hatte sowieso zuviel zu tun, mit ihren eigenen Gefühlen zurecht zu kommen. Die heftigen Emotionen rund um sie herum setzten ihr mehr zu, als sie es wahr haben wollte. Sie fühlte sich innerlich total ausgelaugt.

Dann stand Peter wortlos auf und kam zu ihr herüber, den Brief wie einen Schatz in der Hand haltend. Er zog Angel von ihrem Stuhl hoch und umarmte sie fest. "Danke", flüsterte er in ihr Ohr. "Und entschuldige, dass ich im Delanceys so auf dich los gegangen bin."

Angel erwiderte seine Umarmung und strich ihm über den Rücken. "Schon vergessen, Peter", gab sie ebenso leise zurück.

Es dauerte lange, bis sich der junge Mann wieder von ihr löste. Kermit saß nur auf der Couch und beobachtete die beiden mit Argusaugen, er selbst sprach kein einziges Wort.

Annie kam aus dem Arbeitszimmer heraus. Man konnte unschwer erkennen, dass auch sie geweint hatte, aber sie wirkte nun wesentlich entspannter und zufriedener. Sie tastete nach Angels Hand und umarmte sie ebenfalls.

"Ich kann es nicht fassen, Paul kommt tatsächlich wieder nach Hause! Das hat er auch auf das Band gesprochen. Vielen Dank für dieses mehr als wunderbare Geschenk, meine Liebe. Sie ahnen gar nicht, wie viel Freude sie uns, und vor allen Dingen mir, damit bereiten."

Angels Gesicht nahm eine tiefe Röte an. "Ich habe nur einem Freund einen Gefallen getan, nichts weiter", schwächte sie ab.

"Oh, das ist weitaus mehr als das, meine liebe Angel. Und nun erzählen sie mir alles, wie haben sie Paul getroffen?"

Angel kicherte leise, als sie an das erste Zusammentreffen mit dem ehemaligen Captain dachte.

"Ich habe ihren Mann buchstäblich über den Haufen gerannt, Annie. Ich befand mich auf meinen üblichen Joggingtrip am Morgen und sah überall hin, nur nicht auf den Weg. So habe ich Paul glatt übersehen und bin voll in ihn gerannt. Sie können sich vorstellen, dass er nicht sehr glücklich darüber war, doch als er entdeckte, dass ich seine Sprache sprach, sah die Sache ganz anders aus. Ich habe ihn dann als Entschuldigung zu einem Kaffee eingeladen und so kamen wir ins Gespräch."

Sie machte eine kurze Pause und strich sich über die Haare, bevor sie weiter sprach. "Er war auf der Suche nach jemandem, der ihm ein paar Schriftstücke übersetzen konnte und ich habe mich ihm als Dolmetscher angeboten. So sind wir uns dann näher gekommen. Paul ist ein wunderbarer Mensch, Annie, das muss ich ihnen nicht sagen. Wir haben viel geredet, auch über sie. Er vermisst sie wirklich sehr. Er hat auch viel über Kelly, Caroline und auch Peter gesprochen, aber…" Ihr Blick wanderte entschuldigend zu dem jungen Cop, der gebannt lauschte. "…durch Peters anders lautenden Nachnamen, habe ich da keine Verbindung hergestellt.

"Jedenfalls hat mich irgendwann wieder der Wandertrieb gepackt und ich wollte das Land verlasen. So ist Paul dann auf die Idee mit dem Karton gekommen und ich fühle mich sehr geehrt, dass ich der Überbringer sein darf. Ende der Story."

"Zumindest das, was sie mir erzählen dürfen, was?", meinte Annie trocken.

Angel lachte leise. "Ihr Mann hat mich schon vorgewarnt, dass ihnen nichts entgeht, Annie. Aber sie haben Recht, mehr kann ich ihnen im Moment nicht erzählen. Vielleicht später, wenn er wieder da ist."

"Das muss ich wohl akzeptieren, auch wenn es mir schwer fällt. Aber wenn Paul ihnen vertrauen kann, dann kann ich das auch."

Kermits Beeper riss die beiden Frauen aus ihrer Unterhaltung. Der Detective erhob sich nach einem kurzen Blick auf die Nachricht.

"Annie, darf ich euren Computer benutzen? Ich habe gerade eine wichtige Mail erhalten."

"Aber sicher doch, bedien dich nur.", erwiderte Annie und machte eine einladende Geste mit der Hand.

"Danke", erwiderte Kermit und eilte aus dem Zimmer, als würde der Raum in Flammen stehen, was Angel dazu veranlasste, ihm einen erstaunten Blick hinterher zu werfen. Doch dann wurde sie gleich wieder von Annie in Beschlag genommen und konnte so nicht darüber nachdenken, warum Kermit plötzlich so angespannt gewirkt hatte.

Die beiden Frauen unterhielten sich sehr angeregt. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob sie sich nicht erst seit ein paar Minuten kannten. Peter setzte sich ebenfalls mit an den Tisch und trug ab und zu etwas zur Unterhaltung bei, dabei blickte er immer wieder Angel dankbar an.

Nach einer Weile kehrte Kermit zu ihnen zurück, ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand und wirkte wesentlich entspannter als vorhin.

"Ich habe noch eine gute Nachricht für zwei von euch", meinte er.

"Und die wäre?", erkundigte sich Peter.

"Nun. Angel, du hast mir ja ein wenig von deiner Lebensgeschichte erzählt und ich dachte mir, ich hake ein wenig nach."

Angel erbleichte. An das Gespräch konnte sie sich noch sehr gut erinnern und auch daran, wie aufmerksam Kermit ihr zugehört hatte, als sie von der nicht vorhandenen Verwandtschaft sprach. Das konnte für sie nur eines bedeuten.

"Nun sag bloß, ich habe irgendwo tatsächlich noch Verwandte?", erkundigte sie sich stockend und hoffnungsvoll zugleich.

Kermit nickte bekräftigend. "Oh yeah; und ob. Dein Vater Raphael hatte noch einen Zwillingsbruder. Allerdings wurden die beiden gleich bei der Geburt getrennt. Nicht einmal die Eltern wussten Bescheid, da es eine Kaiserschnitt Geburt gab und somit der Vater den Kreissaal verlassen musste. Ich nehme an, sie vertrautem dem Arzt und glaubten ihm, als der ihnen sagte, sie würden nur ein Kind bekommen. Daher wurde auch nie nach Raphael gesucht. Der verantwortliche Arzt hat deinen Vater für viel Geld an eine kinderlose Familie verkauft. So wie es aussieht, hat dein Vater irgendwann heraus bekommen, dass er adoptiert wurde und hat seinen ursprünglichen Nachnamen wieder angenommen. Er heiratete deine Mutter und du wurdest geboren."

Kermit machte eine effektvolle Pause. Peter, der nicht wusste wie Angels Nachname lautete, da Kermit ihn im Delanceys nicht genannt hatte, meinte: "Nun mach es nicht so spannend. Sag der Armen doch endlich, wo sie noch Verwandte hat."

Auch Angel blickte ihn erwartungsvoll an. "Nun mach schon", meinte auch sie voller ängstlicher Unruhe.

"Tsk, tsk, wie kann man nur so ungeduldig sein." Kermit schnalzte mit der Zunge und pausierte noch einmal, bevor er weiter sprach. "Also, der Name des Zwillingsbruders lautete Kwai Chang Caine. Angel Caine, ich darf dir deinen Cousin Peter Caine vorstellen, der Sohn von Kwai Chang Caine."

"Was?" Peter sprang auf die Füße. Kermits Ansage traf ihn wie ein Blitzschlag. Ungläubig starrte er Kermit an, sein Blick glitt zu Angel. "Angel ist meine Cousine, bist du sicher?"

"Oh yeah, Peter. Absolut sicher. Deine Familie hat Zuwachs bekommen." Trocken fügte er hinzu: "Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Mädchen.”

Ein zaghaftes Lächeln, zugleich auch ein wenig traurig, glitt über Peters Gesicht. Die widersprüchlichsten Gefühle rasten durch seinen Körper. Er fühlte sich hin und hergerissen zwischen Wut und Freude. Wut über den Arzt, der sie alle so schändlich betrogen hatte und Freude über den Zuwachs in ihrer Familie. Die Freude schließlich gewann, er strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

"Oh Mann, das wird Paps glatt umhauen, was sagst du dazu Angel?", meinte er vergnügt.

Die junge Frau saß blass und bleich auf ihrem Stuhl und wirkte seltsam abwesend.

"Angel?"

Peter beugte sich besorgt über sie. Er konnte ihre Reaktion nicht interpretieren, fühlte er sich doch überglücklich, noch eine Verwandte gefunden zu haben. Zumal er sie schon von der ersten Sekunde an sehr gemocht hatte. Er bedauerte nur, dass dies nicht früher geschehen war. Behutsam legte er ihr eine Hand auf die Schulter.

Er spürte das heftige Zittern deutlich unter seinen Fingern. Vorsichtig drehte er sie zu sich herum, damit er ihr in die Augen schauen konnte, in denen sich deutliche Pein und Leid abzeichnete.

"Hey, was ist denn los?"

Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen, von wilden Schluchzern geschüttelt. Peter strich ihr beruhigend über den Rücken.

"Hey ist schon gut, es ist alles in Ordnung", flüsterte er ihr ins Ohr. Hilfesuchend blickte er zu Kermit. "Was ist denn los mit ihr?"

Der dunkelhaarige Cop zuckte im ersten Moment mit den Schultern, dann schien ihm die Erkenntnis zu kommen. "Ich vermute, sie weint, weil die Erinnerung sie einholt. Sie musste ihre gesamte Kindheit in einem Waisenhaus verbringen", erklärte er dem jungen Cop.

Peters Gesichtsausdruck wirkte nun ebenfalls gequält. Nur äußerst ungern erinnerte er sich an die drei furchtbaren und kaum erträglichen Jahre, die er selbst in Waisenhäusern zugebracht hatte. Dass jemand gar seine ganze Jugend in solch einer Folteranstalt verbringen musste, war für ihn unvorstellbar Er wusste genau, wie es dort zuging. Mehr als einmal hatte er sich damals gewünscht, sterben zu dürfen, weil er es dort nicht mehr aushielt. Hätte es Paul nicht gegeben, der ihn im Alter von 15 Jahren aus Pineridge herausgeholt, und ihn an Sohnes Statt angenommen hatte, Peter wüsste nicht, was aus ihm geworden wäre, sofern er überhaupt überlebt hätte..

"Oh mein Gott, arme Kleine", flüsterte er tonlos und hielt sie nur noch fester.

Peter öffnete sich Angel gegenüber und konzentrierte sich ganz auf sie. Er keuchte, als ihre heftigen Emotionen auf ihn einstürmten, doch er schaffte es, sie soweit abzublocken, dass sie ihm nichts anhaben und ihn nicht in der Konzentration stören konnten.

Mehrere Minuten verstrichen, in denen Peter nach Leibeskräften versuchte, Angel zu trösten und ihr die Trauer zu nehmen. Selbst Annies 'magische' Hände, die es immer schafften, ihre Kinder zu beruhigen, konnten diesmal nichts ausrichten.

Kermit selbst tat es in der Seele weh, die junge Frau so zu sehen. Er machte sich große Vorwürfe, die Neuigkeit nicht sensibler an den Mann und an die Frau gebracht zu haben.

"Hast du irgend ein Beruhigungsmittel im Haus, Annie?", erkundigte er sich voller Sorge, weil Angels Zustand sich zusehends verschlechterte, und sie einfach nicht aufhören konnte zu zittern.

"Ja, oben im Badezimmerschränkchen müssten noch Baldriantabletten sein. Der Arzt hat sie damals Kelly verschrieben, als sie so starke Alpträume nach dem Schulbrand hatte."

Der ehemalige Söldner nickte unstet, dann hechtete die Treppenstufen hinauf und kam kurze Zeit später mit einem kleinen, braunen Fläschchen zurück. Er schüttelte etwas von dem Inhalt heraus und drückte Peter zwei Tabletten davon in die Hand.

"Hier, versuche ihr die zu verabreichen, vielleicht hast du Glück."

Mit einem kleinen Trick gelang es Peter tatsächlich, Angel die Tabletten zu geben. Es dauerte nicht lange und sie beruhigte sich zusehends, wenn auch das Zittern einfach nicht aufhören wollte. Doch immerhin hörte ihr heftiges Weinen auf und sie lag nun zusammen gekauert wie ein Baby an Peters Brust.

Der Shaolin-Cop sah beunruhigt auf sie hinunter. "Ich denke, es ist das Beste, wenn ich sie zu meinem Vater bringe. Sie scheint einen halben Nervenzusammenbruch zu haben."

"Das lässt du besser bleiben. Ich glaube nicht, dass ein Zusammentreffen mit Caine im Moment das Beste für sie wäre. Bedenke, wie sie auf die Nachricht reagiert hat. Du musst ihr erst Zeit geben das Eine zu verdauen, bevor sie sich dem Zweiten widmen kann", widersprach Kermit.

Peter dachte einen Moment darüber nach und stimmte schließlich zu. "Du hast Recht. Es wäre nicht schlau, ihr in dem Zustand noch den Zwillingsbruder ihres Vaters vor die Nase zu setzen. Ungeachtet dessen, kann sie aber heute Nacht auf keinen Fall alleine bleiben."

"Das weiß ich. Ich werde auf sie aufpassen, Junge. Sie wohnt direkt neben mir. Du solltest dich auch etwas ausruhen nach all der Aufregung." Dabei machte er eine Geste in Richtung Annie, die dem jüngeren Detective nicht entging. Da gab es noch jemanden, der ihn heute sicher brauchte.

Nur widerwillig stimmte Peter Kermit zu. "Ich werde heute Nacht bei dir bleiben, Annie bis Kelly morgen vom College heimkommt. Das heißt, wenn es dir recht ist."

"Natürlich, Honey. Ich freue mich sehr für dich, Peter, auch wenn mir Angel sehr Leid tut. Ich kann mir vorstellen, was sie durchgemacht hat. Du hast damals einige Horrorgeschichten von Pineridge erzählt. Ich kann mich noch gut erinnern."

Inzwischen hatte Angels Zittern aufgehört. Peter bemerkte erleichtert, dass sie eingeschlafen war. Mit ihr auf den Armen erhob er sich.

"Ich trage sie noch zum Wagen, der Moment ist günstig und dann unterhalten wir beide uns, Mom."

"Gerne, Liebling. Kermit, sage ihr bitte wenn sie erwacht, herzlich willkommen in unserer Familie und ich würde mich sehr freuen, wenn sie bald wieder hier vorbei schaut."

Der Ex-Söldner, äußerlich absolut ruhig, im Inneren hingeben genauso aufgewühlt wie all die anderen, meinte: "Das werde ich auf jeden Fall tun. Ich rufe euch morgen früh an."

Kermit küsste Annie zum Abschied auf die Wange und eilte dann Peter hinterher. Auf der stillen Heimfahrt kreisten seine Gedanken ständig um Angel und den erhaltenen Brief von Paul. Die geschriebenen Zeilen gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf, ebenso wenig sein schlechtes Benehmen Angel gegenüber. Er hatte sie auf der Hinfahrt zu den Blaisdells ziemlich unfair behandelt, was ihm nun sehr leid tat und er fragte sich, ob sie ihm die rüde Bedrohung, die er ihr gegenüber ausgestoßen hatte, je verzeihen würde. Hinzu kam nun eben auch noch die Sache mit Pauls Brief und wie Angel da hinein passte.

Auf ihn machte sie nicht gerade den Eindruck, als würde sie es jeden Tag mit Söldnern zu tun haben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals in dieser Richtung tätig gewesen war. Bei ihren Fähigkeiten hätte er auf jeden Fall von ihr gehört. Paul hatte ihn in seinem Brief inständig darum gebeten, Angel nicht gehen zu lassen, bevor er zurückkehren konnte, ohne einen genaueren Grund zu nennen. Das sagte Kermit, dass die Schlafende neben ihm sich in irgendeiner Art und Weise in Gefahr befinden musste, von der sie nichts wusste. Er seufzte leise. Das Problem sie hier zu behalten, gab er jedenfalls nicht mehr. Nicht nach allem, was sich heute Abend heraus gestellt hatte

Das brachte ihn wieder auf das direkte Problem zurück. Angel, Caine und Peter. Peter schien mit den Ereignissen des heutigen Abends keinerlei Probleme zu haben. Im Gegenteil, er schien sich wirklich sehr gefreut zu haben, eine Cousine zu bekommen, anders stand es um Angel. Kermit hatte fast befürchtet, dass sie etwas überspitzt reagieren würde. Doch dass es dermaßen ausartete, damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte nicht voraus sagen, wie sie sich nun verhalten würde, denn dazu kannte er sie zu wenig.

Seltsam, kannten sie sich wirklich erst seit zwei Tagen? Es kam ihm wesentlich länger vor. Außerdem fragte Kermit sich, was bedeutete die neu gefundene Verwandtschaft nun für ihn?

Klar, er hatte von Anfang an gespürt, dass es bei der jungen Frau etwas gab, was er nicht benennen konnte. Nun wusste er es. Sie strahlte genau dieselbe Energie aus, wie Caine und sein Sohn. Jetzt fragte er sich, ob er ihr überhaupt einen Gefallen damit getan hatte, denn ihre neu entdeckte Verwandtschaft bedeutete auch Gefahr für sie. Der Name Caine bürgte gemeinhin für Ärger und Probleme.

Nicht nur die Sing Wah trachteten Caine und seinem Sohn nach dem Leben, es gab auch einen Haufen anderer Leute, die die Beiden liebend gerne tot gesehen hätten. Und nun war Angel auch ein Teil davon, ob sie wollte oder nicht. Kermit wusste, dass sowohl Caine als auch Peter alles daran setzen würden, sie zu beschützen, was speziell für ihn bedeutete, dass sie keine Zeit mehr für ihn haben würde.

Seltsam wie das Leben so spielte. Hier traf er eine Frau, die ihm sehr schnell sehr viel bedeutete, nur um sie wieder an jemand anderen zu verlieren, ohne es verhindern zu können. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich noch für ihn interessieren würde, nun nachdem sie ihre Familie gefunden hatte. Da standen nun sicher andere, viel wichtigere Dinge für sie im Vordergrund.

Beinahe hätte er bei dem trüben Gedanken abgrundtief geseufzt...aber eben nur beinahe. Wenn es so sein sollte, dann sollte es eben so sein. Immerhin würde er sie an eine Familie und nicht direkt an einen anderen Mann verlieren, das war wenigstens ein kleiner Trost. Glück hatte er in seinem Leben eh nicht verdient, nicht nach all den Gräueltaten, die er seiner Ansicht nach während seiner Zeit als Söldner verübt hatte.

Kermit schob die negativen Empfindungen vorerst zur Seite, denn ihr Zuhause kam in Sichtweite. Er parkte den Wagen in der Tiefgarage an seinem Stammplatz dicht am Eingang zum Lift und hob die noch immer schlafende Angel aus dem Auto. Er überlegte einen Moment und beschloss dann, sie direkt in sein Appartement zu bringen. So konnte er besser auf sie aufpassen.

Angel wachte nicht ein einziges Mal auf. Daraus schloss er, dass sie wirklich sehr erschöpft sein musste. Selbst als der Detective sie ins Bett legte und ihr die Schuhe auszog, rührte sie sich nicht. Er seufzte leise, das würde eine lange Nacht für ihn werden. Er konnte nicht riskieren, richtig zu schlafen, höchstens dösen, da er nicht wusste, in welchem Zustand Angel aufwachen würde.

************

Am frühen Morgen wurde Kermit von einer flüchtigen Bewegung zum unzähligsten Male in dieser Nacht aus seinem leichten Dämmerschlaf gerissen. Er hob den Kopf und beobachtete Angel. Diesmal öffnete sie die Augen und schaute verwirrt um sich. Ihr Blick wanderte zu Kermit. Die Erinnerung kehrte zurück, das konnte er deutlich erkennen.

"Hallo junge Dame, wie geht es dir?", erkundigte sich der ehemalige Söldner fürsorglich.

"Hab ich das alles nur geträumt, oder...", brachte sie hervor.

"Es ist Realität, Angel.", bestätigte Kermit und fügte schnell hinzu: "Es tut mir sehr leid, was ich im Wagen zu dir gesagt habe."

Sie machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. "Vergiss es, ich kann verstehen, was in dir vorging. Wo ist Peter?"

"Er ist bei Annie geblieben, damit sie nicht alleine ist."

"Das ist gut, er ist ein lieber Kerl, sofern ich das jetzt schon sagen kann, allerdings mit einem ziemlich heftigen Temperament. Bist du die ganze Nacht hier gesessen?"

"Ja, ich habe mir Sorgen gemacht. Wie geht es dir und ich will die Wahrheit hören. Versuche nicht, mich anzulügen."

Ihre Augenbraue zog sich in die Höhe. "Willst du mir schon wieder drohen? Das funktioniert nicht, Detective Griffin. Aber zu deiner Beruhigung kann ich dir sagen, dass er mir gut geht. Ich denke, ich habe gestern einen großen Schritt nach vorne gemacht. Als du mich so plötzlich mit diesen Tatsachen konfrontiert hast, kam die ganze Erinnerung wieder hoch und ich war eh schon ziemlich down wegen Annie und dem Ganzen. Der arme Peter, er wusste gar nicht was ihm geschieht. Da freut er sich, eine Verwandte zu treffen und hat stattdessen ein abgewracktes Bündel Mensch im Arm. Ich schäme mich direkt, wie ich mich gestern Abend benommen habe", beendete sie ihre lange Rede.

"Also das musst du ganz sicher nicht. Nach all dem, was du durchgemacht hast, war deine Reaktion nur natürlich, wenn auch ziemlich heftig, wie ich zugeben muss. Die Caines haben nun mal ein überschäumendes Temperament und du bildest da keine Ausnahme."

Angel musste aufgrund seiner Aussage ein wenig grinsen. Ja, über Temperament verfügte sie tatsächlich, mehr als für sie gut war in vielen Situationen.

Eine kurze Stille entstand. Ihr wurde bewusst, dass sie noch immer in Kermits Bett lag. Bestimmt sah sie auch ziemlich verknautscht, zerzaust und verheult aus, sie konnte es sich lebhaft vorstellen. Plötzlich fühlte sie sich ziemlich unwohl und rutschte unruhig unter den Laken hin und her.

"Was hältst du davon, wenn du nach nebenan gehst, dich frisch machst und anschließend kommst du wieder hier her zum Frühstück?", half Kermit ihr aus der Klemme.

"Musst du denn nicht arbeiten?"

"Heute nicht, ich habe meinen freien Tag. Also, was ist nun?"

"Einverstanden, ich bin in ungefähr zwanzig Minuten wieder zurück."

"Gut, bis gleich", erwiderte er, erhob sich und ging aus dem Zimmer, damit Angel ihre Privatsphäre behalten konnte.

 

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