Teil 9
Autor: Fu-Dragon
 

 

Einige Tage später

Annie stand in der Küche und knetete Brotteig trotz der sehr späten Stunde. Sie seufzte leise. Schon seltsam, wie schnell man sich wieder an bestimmte Dinge, wie zum Beispiel Geräusche im Haus, gewöhnen konnte.

Bevor ihr Gatte zurückgekehrt war, hatte sie sich schweren Herzens an die Stille im Haus gewöhnt gehabt. Kelly war, um näher am College zu sein, in eine eigene, kleine Wohnung gezogen und Caroline hatte auch schon lange ihren eigenen Hausstand mit ihrem Ehemann und dem Baby. Obwohl sich Kelly als auch Caroline immer redlich bemüht hatten, während Pauls Abwesenheit regelmäßig bei ihr vorbei zu schauen und oft auch mehrere Tage bei ihr blieben, war es Annie schon sehr schwer gefallen, die entstandene Einsamkeit zu ertragen. Ohne Paul und ihre Töchter kam ihr das Haus einfach so leer vor.

Was war sie froh gewesen, als Paul nun endlich wieder bei ihr war. Tief in ihrem Inneren und in langen, einsamen Nächten hatte sie immer befürchtet, ihn nur noch in einem Zinksarg zurück zu bekommen, doch dieser beinahe täglich wiederkehrende Alptraum wurde zum Glück nicht Wirklichkeit. Die wenigen Tage, die sie seit Pauls Ankunft gemeinsam verbrachten, waren sie auch noch so stürmisch, hatte Annie in allen Zügen genossen. Gut, sie musste zugeben, die erste Zeit war irgendwie seltsam verlaufen. Sie hatte das Gefühl gehabt, ihren Mann erst wieder kennen lernen zu müssen, aber das hatte sich dann nach wenigen Stunden wieder gegeben. Mittlerweile war alles wieder wie früher. Annie lächelte. Gut, nicht ganz wie früher. Es war...wesentlich intensiver. Sie lebten jeden Tag so, als könne es ihr letzter sein.

Manchmal kam es Annie auch so vor, als wolle Paul mit aller Macht in so kurzer Zeit als möglich, alles wieder gut machen, was er ihr seiner Meinung nach angetan hatte. Dass sie ihm immer wieder sagte, ihr genüge, dass er wieder hier sei, mehr brauche sie nicht, schien er nicht zu begreifen. Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. Nun ja, irgendwie würde es ihr sicher gelingen, ihm das begreiflich zu machen...wenn er wieder da war.

Annie seufzte erneut und knetete den Brotteig ein wenig kräftiger. War es wirklich erst drei Tage her seitdem Paul Angel praktisch entführt hatte und er mit ihr mit unbekanntem Ziel verschwunden war? Es kam ihr wesentlich länger vor. Vor allen Dingen erschien ihr das Haus diesmal auch wesentlich größer und leerer, als bei Pauls Abschied vor über einem Jahr. Kurz gesagt vermisste sie ihren geliebten Mann an allen Ecken und Enden, aber Annie wusste auch, dass diese Trennung für Angels Wohl unerlässlich war. Dennoch hoffte sie, die beiden würden bald zurückkommen.

Annie hielt mitten in der Bewegung inne. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg und lauschte angestrengt. Dann löste sich ein leiser Freudenschrei von ihren Lippen. Schnell wischte sie ihre bemehlten Hände an einem Handtuch sauber und eilte zur Haustüre. Sie riss sie auf und blieb am Eingang stehen. Ja, da war es, das vertraute Brummen von Pauls Sedan. Gleich, gleich würde er wieder bei ihr sein.

Die blinde Frau wartete ungeduldig, bis der Motor des Wagens ausging. Türen klappten und sie hörte, wie zwei Personen langsam näher kamen. Angel und Paul. Besonders die Schritte ihres Ehemannes hätte sie überall in der Welt wieder erkannt. Mit angehaltenem Atem wartete sie, dass die Tritte bald verstummen würden, was sie auch taten.

"Hallo mein Schatz", sagte Paul dicht vor ihr.

Gleich darauf fühlte Annie sich in starke Arme gezogen und Paul gab ihr einen langen, verheißungsvollen Begrüßungskuss. Als sie wieder zu Atem kam, erwiderte sie die Begrüßung ihres Mannes.

"Hallo Paul und hallo Angel."

"Hallo", kam es leise von Angel zurück, die sich erschreckend schwach und erschöpft anhörte.

Annies Mutterinstinkt kickte ein und überdeckte alle anderen aufkeimenden Gefühle. Sie knuffte ihren Mann leicht in die Seite. "Was hast du nur mit ihr angestellt, dass sie so fertig ist?", wollte sie vorwurfsvoll wissen.

"Wir haben nur ein paar Dinge ausgearbeitet, Schatz. Dem Engelchen geht es gut."

Die Angesprochene fiel mit ein. "Ja wirklich, es geht mir gut. Ich bin nur ein wenig müde." Sie machte eine kleine Pause, so als wollte sie sich Mut zusprechen, bevor sie fort fuhr. "Annie...es tut mir sehr leid, was ich alles zu dir gesagt habe. Ich war nicht ich selbst an diesem Abend, was aber keine Entschuldigung für mein kindisches Verhalten sein soll. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann einmal vergeben. Das Letzte, was ich wollte, war jemanden, den ich gern habe, zu verletzen und genau das habe ich getan..." Ihre Stimme wurde immer leiser und erstarb schließlich.

Annie konnte den Schmerz in ihrer Stimme deutlich heraus hören, besonders wie sehr sie sich schämte. Die blinde Frau lächelte offen, streckte die Hände in Richtung Angels Stimme aus und zog sie in die Arme.

"Es ist schon gut, meine Liebe, ich habe dir längst verziehen. Außerdem konnte ich sehr gut nachfühlen, wie es dir ging. Du konntest mir nichts vormachen. Ich weiß, dass nur deine Hilflosigkeit aus dir gesprochen hat."

Angel drückte die blinde Frau fest an sich. "Vielen Dank, Annie. Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet. In der kurzen Zeit, seitdem wir uns kennen, bist du mir sehr wichtig geworden und ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich dich aufgrund meiner eigenen Sturheit verloren hätte."

Paul mischte sich ein und legte den beiden Frauen jeweils eine Hand auf die Schultern.

"Nun lasst es mal gut sein damit. Gehen wir nach drinnen, da ist es gemütlicher als hier draußen."

Die beiden lachten und ließen sich von dem großgewachsenen Mann ins Wohnzimmer führen. Angel fielen fast die Augen zu.

Paul erkundigte sich: "Soll ich dich noch nach Hause fahren, Engelchen?"

Sie druckste ein wenig herum. "Also wenn ich ehrlich sein soll, wünsche ich mir nur noch ein Bett zum Schlafen, ich bin hundemüde. Würde es euch was ausmachen, wenn ich hier auf dem Sofa schlafe und du mich erst morgen früh zurück fährst, Paul?"

Der Angesprochene erhob sich und zog die junge Frau mit hoch. Er drückte sie kurz an sich und hauchte ihr einen väterlichen Kuss aufs Haar.

"Keineswegs, mir geht es auch nicht sehr viel anders. Die Fahrt war lang, aber deswegen musst du nicht gleich auf der Couch schlafen. Hier gibt es genügend freie Schlafzimmer. Ich bringe dich in Peters altes Zimmer, da kannst du dich hinlegen."

"Danke." Sie beugte sich noch einmal zu Annie herunter und küsste sie auf die Wange.

"Gute Nacht und danke für alles."

***

Paul kehrte wenige Minuten später zurück und schlenderte mit seiner Frau in ihr eigenes Schlafzimmer. Während sie sich für die Nacht zurecht machte, nutzte er die Gelegenheit für eine kurze Dusche und legte sich dann zu ihr ins Bett. Sie kuschelte sich dicht an ihren Mann, genoss seine beschützende Umarmung.

"Angel ist ja nicht mehr wieder zu erkennen. Sie scheint fast zu ihrem früheren Selbst zurückgefunden zu haben. Wie hast du das geschafft, Liebling?"

Paul gab seiner Frau einen langen Kuss, bevor er ihr antwortete. "Was soll ich dazu sagen? Eigentlich habe ich sie nur mehr oder weniger dazu gebracht, ihre Angst und ihre Wut auszutoben. Danach konnte man wieder vernünftig mit ihr reden und wir haben eine Art Deal abgeschlossen." Er fuhr sich über die Stoppeln seines Dreitagebartes.

"Annie, ich will dir nichts vormachen, das kann ich auch nicht. Angel steht noch ziemlich am Anfang, aber sie ist jetzt zumindest bereit, Hilfe anzunehmen und hat akzeptiert, dass sie das Unveränderliche nicht verändern kann. Vielleicht kannst du sie unter deine Fittiche nehmen und ihr den einen oder anderen Trick beibringen."

Annie legte ihrem Mann eine Hand auf die Brust. "Aber sicher, mein Schatz. Ich werde ihr helfen wo ich nur kann. Wer ist dazu besser geeignet als ich?"

Paul fing ihre Hand ein und küsste ihre Fingerspitzen. "Du bist und bleibst einfach die Beste, Annie. Ich liebe dich."

Ihre Antwort ging unter in einem langen, tiefen und leidenschaftlichen Kuss. Dann feierten sie ihr eigenes, ganz privates Wiedersehen.

*********

Am nächsten Morgen verließ Paul unter einem Vorwand das Haus und lies den beiden Frauen ein paar Stunden Zeit für eine Unterhaltung. Er wollte nicht stören, wusste er doch, dass Annie Angel in dieser Zeit der Dunkelheit eine große Hilfe sein konnte.

Als er gegen Mittag heimkehrte, sah er die beiden Frauen einträchtig am Tisch sitzen. Beiden sah man an, dass sie geweint hatten, doch ansonsten machten sie einen eher gelösten Eindruck. Paul hakte nicht nach, in dem Wissen, dass Annie ihm schon verraten würde, was wichtig wäre. Alles andere würde ein Geheimnis zwischen den beiden Frauen bleiben.

Nach dem Mittagessen brachte er Angel zurück in ihre Wohnung und teilte ihr mit, dass Kermit zu ihr kommen würde, sobald er von der Arbeit zurückkam. Er wollte nicht, dass Angel lange alleine war, da sie mit ihrer Blindheit noch nicht so gut zurecht kam. Mit Einverständnis der anderen hatte man einen Plan ausgearbeitet, so dass sie kaum alleine bleiben musste und Angel hatte nun auch endlich zugestimmt. Paul verabschiedete sich von ihr mit einem Kuss auf die Stirn und machte sich auf den Heimweg.

Die junge Frau hatte nun endlich ein paar Minuten für sich alleine. In Gedanken ließ sie das Geschehen der letzten Tage noch einmal Revue passieren und verlor sich vollkommen in der Erinnerung. Erst ein heftiges Pochen an der Türe und ein lautes 'Mensch, hörst du das Klingeln nicht?', brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

"Es ist offen", rief sie.

"Das ist aber nicht sehr sicher. Ich könnte auch ein gefährlicher Mörder sein", tönte ihr Kermits Stimme entgegen.

"Du bist ein gefährlicher Mann", sagte sie ohne nachzudenken und biss sich gleich darauf auf die Lippen.

Kermit lachte nur. Sie hatte er noch nie einschüchtern können und das war etwas, was ihm an ihr sehr gefiel. Er schloss die Türe fein säuberlich hinter sich ab, kam zu Angel und küsste sie auf die Wange, was sie zusammen zucken ließ.

"Sei bitte nicht so leise, wenn du hier herum läufst. Du erschreckst mich damit", beschwerte sie sich.

Kermit entschuldigte sich sofort und nahm neben ihr auf der Couch Platz. Abschätzend sah er sie an.

"Und wie geht es dir Angel? Alles wieder soweit im Lot?"

"Geht ganz gut, danke der Nachfrage."

"So wie du ausschaust, hat dich Paul ganz schön hergenommen", meinte er

Angel schüttelte sich. "Erinnere mich bloß nicht daran, ich will auch nicht darüber reden. Mir ist schon peinlich genug, wie ich mich euch gegenüber verhalten habe und ich schäme mich furchtbar deswegen."

Kermit machte eine abwehrende Handbewegung. "Darüber musst du dir keine Gedanken machen, es trägt dir keiner etwas nach. Wer weiß wie ich reagiert hätte, wenn mir das passiert wäre."

Angel konnte das leichte Lächeln nicht verkneifen, Kermit freute sich, ihre Stimmung damit ein wenig erheitern zu können.

"So, wie ich dich kenne, hättest du wohl alles kurz und klein geschlagen und dann mit dem Eagle herum gefuchtelt."

"Hey, hey, so schlimm bin ich nun auch nicht", wehrte er ab.

"Na ich weiß nicht."

Nun grinste sie ihn offen an. Er erwiderte ihr Lächeln, auch wenn sie es nicht sehen konnte.

"Und, hast du heute schon was vor?", erkundigte er sich.

Angel wurde augenblicklich ernst, das war wohl die falsche Frage gewesen. "Nein, ich kann ja eh nichts tun", antwortete sie leise.

Kermit nahm ihre Hände in die seinen. "Hey, also so eng darfst du es nun auch nicht sehen. Es gibt eine Menge, was du tun könntest, oder..." Er zögerte absichtlich eine Sekunde "...was wir tun können."

"Ach ja und was? Fernsehen schauen? Am Computer sitzen? Oder ein Buch lesen?", erwiderte sie mit zitternder Stimme.

Kermit tat es im Herzen weh, Angel so leiden zu sehen. Es musste schlimm sein, wenn die ganze Welt von einem Moment zum anderen nicht mehr so wahrnehmen konnte, wie man sie kannte. Ohne groß darüber nachzudenken, zog er sie in seine Arme und hielt sie fest.

"Schon gut, Dollface.", flüsterte er ihr ins Ohr und strich mit der Hand in beruhigenden Kreisen über ihren Rücken. "Wir könnten zum Beispiel einen schönen Spaziergang machen, es ist herrliches Wetter; oder wir können uns tatsächlich mit dem Computer beschäftigen. Ich habe da eine Überraschung für dich."

Angel beruhigte sich langsam in seiner Umarmung. Sie spürte, wie ihr Körper auf seine Nähe reagierte und sie sich mehr und mehr entspannte. Bei seinen Worten vergrub sie den Kopf halt suchend an seiner Brust.

"Ich will nicht nach draußen", murmelte sie an seiner Schulter, als hätte sie nur den ersten Teil seiner Antwort verstanden.

Kermit strich ihr zärtlich über den Nacken. "Das musst du auch nicht, wenn du nicht willst. Aber willst du nicht zumindest wissen, was ich für eine Überraschung für dich habe?"

Angel seufzte leise und lehnte sich nun voll gegen ihn, was er mit einem überraschten Laut kommentierte.

"Wenn du es mir verraten möchtest, oder verlangst du von mir, dass ich es selber herausfinde? Sorry, aber so gut wie Annie bin ich noch lange nicht, als dass ich alles ertasten kann."

Kermit lachte leise. "Das hatte ich auch nicht vor. Ich war so frei und habe während deiner Abwesenheit ein Voicesystem auf deinem Computer installiert. Es ist in der Lage dir das, was du schreibst, und auch E-Mails und andere Sachen in Sprache zu übersetzen, so dass du arbeiten oder chatten kannst, wenn dir danach ist."

Angels Laune verbesserte sich erheblich. "Das hast du wirklich für mich getan? Wie komme ich zu der Ehre?" Sie juchzte fast, so sehr freute sie sich.

Ein warmes Gefühl breitete sich in Kermits Magen aus, mit so viel Freude hatte er nicht gerechnet.

"Das ist doch ganz einfach. Ich habe mir nur überlegt, wie ich dein Leben für die nächste Zeit ein wenig angenehmer machen kann und das ist dabei heraus gekommen. Soll ich es dir zeigen?"

"Ja sehr gern. Danke."

Angel löste sich aus seiner Umarmung und fuhr mit ihren Händen seine Arme entlang, bis sie bei seinem Gesicht angelangt war. Dann küsste sie ihn mitten auf den Mund als Dankeschön.

Kermit versteifte sich im ersten Moment. Die Frau schaffte es immer wieder, ihn zu überraschen. Sie hatten sich schon öfters geküsst, um es mit einem Wort zu sagen standen sie vor Angels Krankheit kurz vor einer Partnerschaft, oder was immer sich daraus entwickeln würde. Aber er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass sie ihn hier und jetzt küssen würde. Vor allem nicht, nachdem sie sich seit ihrer Erblindung so abweisend verhalten hatte. Paul schien wirklich ganze Arbeit geleistet zu haben.

Angel entging sein plötzliches Versteifen nicht. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er konnte den Gedanken förmlich lesen, dass sie sich zurückgesetzt fühlte und annahm, dass er wegen ihrer Blindheit nichts mehr von ihr wollte.

Der Cop hielt sie fest, als sie zurück weichen wollte. "Na komm, Dollface, das war doch sicher nicht alles", murmelte er und bedeckte seinerseits ihren Mund mit dem Seinen.

Sie öffnete Automatisch die Lippen und seufzte leise. Kermit küsste sie sanft und zärtlich, gab ihr jederzeit die Möglichkeit zum Rückzug, die nie kam. Erst als beide keine Luft mehr bekamen, löste sich Kermit von ihren Lippen. Er lächelte.

"Na siehst du, das war schon sehr viel besser."

Angel konnte nicht anders und musste lachen. "Treffende Bemerkung, Dr. Watson. Ich könnte ewig so weiter machen", gestand sie ehrlich. Verlangen lag in ihrer Stimmung.

Kermit biss die Zähne zusammen. "Nicht nur du, Dollface. Aber nicht jetzt."

Angel lehnte sich ein wenig zurück, so als wollte sie ihm in die Augen schauen, seiner Erregung sehr bewusst, die sich unmissverständlich an ihren Bauch drückte.

"Warum?", wollte sie wissen.

"Ich will dir nicht wehtun. Du bist noch so erschreckend schwach und… nun ja, ich will dich mit diesen Worten nicht verletzen...jedoch..."

Angel legte ihm einen Finger auf die Lippen und brachte ihn somit effektiv zum Schweigen.

"Ich verstehe schon, Kermit, aber ich sage dir auch eins: bald bin ich nicht mehr zu schwach und dann..." Sie ließ ihren Satz ebenso unvollendet, aber ihre Körpersprache machte sehr deutlich, was sie meinte.

Kermit stöhnte unterdrückt und zog Angel instinktiv ein wenig näher an sich heran. "Hör bloß auf, Angel. Meine Selbstbeherrschung war auch schon mal besser. Beweg dich am besten gar nicht."

Angel kicherte leise, lehnte sich vollkommen entspannt an seine Brust und murmelte: "Ist gebongt, so ist es auch wunderschön. Danke, dass du für mich da bist und mir nichts von meinem abscheulichen Verhalten nachträgst. Ich brauche deine Nähe sehr."

*Ich dich auch*, antwortete Kermit in Gedanken. Es laut auszusprechen, das konnte er im Moment einfach noch nicht. Außerdem wollte er sie nicht verschrecken.

Mehrere Minuten blieben sie schweigend liegen. Jeder genoss die Nähe des anderen. Kermit stellte fest, dass es tatsächlich wunderschön war, einfach nur hier mit ihr zu ruhen, ohne etwas zu tun. Das war etwas, was er eigentlich nicht kannte. Wenn er mit Frauen zusammen gewesen war, dann meist nur für das Eine. Auch seine Ex-Frauen waren allesamt keine Schmusekätzchen gewesen, wie Angel es war. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihm das mehr und mehr gefiel, mehr als er je gedacht hatte und das ausgerechnet bei ihm, dem Mann, der es nicht mochte, berührt zu werden. Nun, in dieser Richtung schien sich zumindest in der Zukunft einiges zu ändern.

********************

Der Rest des Nachmittags verbrachten Kermit und Angel gemeinsam vor dem Computer. Kermit, der dicht neben ihr saß, einen Arm locker über ihre Schultern gelegt, führte ein klein wenig stolz sein Werk vor. Das Voicesystem arbeitete einwandfrei, was Angel regelrecht erstrahlen ließ. Zwar konnte es nur Englisch, Deutsch und Französisch verarbeiten, aber ihr reichte es für den Anfang. Immerhin konnte sie so mit ihren alten Brieffreunden in Kontakt bleiben oder chatten, was sie weidlich ausnutzte. Kermit hatte es übernommen ihre Firewall zu Rekonfigurieren, so dass sie da nichts mehr tun musste und von Angriffen von außen geschützt war. Außerdem war diese ebenfalls an das Voicesystem angeschlossen, so dass sie eine Warnung bekam, sollte ein Angriff stattfinden.

Gegen Abend tauchte Caine auf. Angel begrüßte ihn freudig und entschuldigte sich auch bei ihm für ihr unmögliches Verhalten die letzten Wochen. Caine verzieh ihr natürlich ebenfalls und nahm sie in die Arme. Er schlug vor, ein paar Schritte zu gehen mit dem Vorwand, sie bräuchte dringend frische Luft, was sie rigoros ablehnte. Furcht zeigte sich in ihren Gesichtszügen. Kermit und Caine schauten sich bedeutungsvoll an. Es war offensichtlich, dass sie Angst hatte, in die Öffentlichkeit zu gehen. Gemeinsam schafften sie es dann doch, Angel davon zu überzeugen, einen Spaziergang zu machen. Sie versicherten ihr, dass ihr nichts geschehen könnte und sie gab letztendlich nach.

Der Spaziergang entwickelte sich zu einem wahren Alptraum. Die beiden Männer nahmen Angel in ihre Mitte. Kermit hielt ihren linken und Caine ihren rechten Arm erfasst, so dass sie sie ohne Probleme führen konnten.

Kaum dass Angel die Sicherheit ihrer Wohnung verließ und sie mit dem Lift nach unten fuhren, schien ein seltsamer Wandel in ihr vorzugehen. Sie drängte sich eng an Kermit, ihr Atem kam in kurzen abgehackten Stößen. Dennoch schaffte sie es, einen Schritt vor den anderen zu machen, sich dabei vollkommen auf die beiden Männer verlassend.

Als sie die Straße erreichten, begann die junge Frau vor Anspannung zu zittern. Bei jedem Laut, den sie nicht einordnen konnte, zuckte sie zusammen. Zögernder und zögernder setzte sie einen Fuß vor den anderen. Alles gute Zureden von Caine und Kermit half nichts, sie wurden immer langsamer.

Letztlich sahen die beiden Männer ein, dass sie der Erblindeten mit dem Ausflug keinen Gefallen taten und kehrten mit ihr wesentlich früher als geplant in ihre Wohnung zurück. Das letzte Stück musste Caine sie sogar tragen, weil sie sich vor lauter Panik kaum noch bewegen konnte.

Als sich die Türe hinter ihnen schloss, ließ Caine die junge Frau herunter. Diese schluchzte unterdrückt auf. Sie stammelte: "Ich geh schlafen, bin müde." Und flüchtete sich in die Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers.

Besorgte Blicke wechselten zwischen den zurückgebliebenen Herren. Kermit machte anstalten seiner Beinahe-Freundin zu folgen, doch Caine hielt ihn zurück.

"Kermit, sie können ihr nicht helfen. Sie müssen jetzt gehen.", meinte der Shaolin fest.

Der ehemalige Söldner warf ihm einen lodernden Blick zu, der an dem Shambhala Meister einfach abprallte.

"Ich glaube nicht. Sie braucht mich jetzt. Sie sehen doch, wie durcheinander sie ist", beharrte Kermit.

Caine schüttelte ebenso entschlossen den Kopf. "Nein, sie müssen jetzt gehen. Sie können ihr nicht helfen, das kann im Moment nur ich."

Der Shaolin legte beide Hände auf Kermits Schulter und musterte ihn mit solch einem intensiven Blick, dass sich der Detective beinahe wie hypnotisiert fühlte. Er merkte wie sein Widerstand brach und etwas tief in seinem Inneren teilte ihm mit, dass sein Gegenüber die Wahrheit sprach. Dennoch verharrte er noch eine ganze Minute in der Position, bevor er sich schließlich von Caine los machte und das Unabänderliche einsah. Wortlos nickte er dem Priester zu und verließ die Wohnung, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch aus dem Shambhala Meister heraus zu pressen, was dieser vor hatte, oder irgend etwas in seiner Hilflosigkeit zu zertrümmern. Im Augenblick vorzugsweise Caines Nase.

Caine wartete noch einen Moment, um sicher zu gehen, dass Kermit nicht zurückkehrte. Dann drehte er sich um, ging zu Angels Schlafzimmer, klopfte kurz und trat ein. Er setzte sich neben sie auf die Bettkante und ergriff liebevoll ihre Hand.

"Was bedrückt dich, meine Tochter?"

Angel seufzte traurig. "Ich weiß es nicht. Es ist wie eine innere Barriere, die immer größer wird je weiter ich aus dieser Wohnung heraus komme. Ich habe versucht, dagegen anzukämpfen und ich habe bitter verloren. Kannst du mir sagen warum das so ist?"

Caine zuckte in typischer Manier die Schultern, wie das leise Rascheln seiner Kleidung andeutete.

"Ich...weiß es nicht. Die Antwort ist tief in deinem Inneren verborgen, nur du allein kannst den Weg dahin finden."

"Na Toll, damit kann ich nun wirklich viel anfangen. Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Ist das wieder so ein Shaolin–Ding, wie Peter immer sagt?"

Caine rieb sanft ihre kalte Hand. Ein warmer Strom schien von ihm auszugehen und Angel widerstand nur mit viel Willenskraft dem Drang, sich in Caines Arme zu werfen, und die Welt um sich herum zu vergessen.

"Der Fluss deines Chi ist unterbrochen. Du musst daran arbeiten, es wieder frei fließen zu lassen", stellte der Priester bedächtig fest.

"Mein Chi? Du meinst meine Lebensenergie oder wie? Wie kann die unterbrochen sein? Wäre ich dann nicht tot?" Angel verstand es nicht ganz.

"Nein, nur wenn dieser Energiefluss irreparabel unterbrochen wäre, was er bei dir nicht ist. Es kann viele Ursachen geben, warum dein Chi nicht frei fließen kann. Diese Unterbrechungen bewirken deine Ängste. Du musst dich dem entgegen stellen und kämpfen. Ich kann dir helfen, dein Chi frei fließen zu lassen, alles andere musst du selbst schaffen."

"Das hört sich ganz an wie eine deiner berühmten Lektionen oder irr ich mich?"

Angel konnte am Tonfall erkennen, dass er sie anlächelte. "Wenn du es so sehen willst.", gab er zurück.

Sie strich sich durch die langen Locken und straffte ihre Schulter. "Gut, was soll ich tun?", fragte sie nach langem Zögern.

"Lass uns meditieren", antwortete Caine einfach.

"Och Paps, du weißt darin war ich noch nie gut.", beschwerte sich die junge Frau sofort. Sie verzog das Gesicht zu einem angedeuteten Schmollen und fragte sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

"Du sollst mich nicht..."

"Ja, ich weiß...ich soll dich nicht Paps nennen. Entschuldige, Peter scheint auf mich abzufärben."

"Ich habe noch keine Antwort von dir erhalten, willst du es versuchen?", hakte der Priester nach, ohne auf ihr Ablenkungsmanöver einzugehen.

Angel sah ein, dass Caine ihr um Längen überlegen war und gab nach. "Einverstanden, was habe ich noch groß zu verlieren?"

"Du kannst nicht verlieren, du kannst nur etwas dazu gewinnen. Vergiss nicht, du bist eine Caine!", lautete Caines kryptische Erwiderung.

Der Shaolin half Angel vom Bett aufzustehen und führte sie in die Mitte ihres Wohnzimmers. Vorsorglich ein Kissen auf den Boden legend, brachte er die junge Frau dazu, sich im Schneidersitz darauf niederzulassen er selbst ließ sich in der Lotusposition auf den Boden sinken. Just in dem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss und Peter betrat die Wohnung. Unschlüssig, die Türe noch offen, blieb er mitten im Rahmen stehen.

"Oh. Hallo Paps, ich habe nicht damit gerechnet, dass du auch hier bist. Hallo Sis, wie geht es dir?", erkundigte er sich unsicher.

Angel war beim Öffnen der Türe zusammen gezuckt, nun lächelte sie ihm offen entgegen und streckte ihm die Hände entgegen. Peter schloss schnell die Türe, eilte zu ihr, kniete sich neben sie und zog sie in die Arme.

"Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Schön, dass du zu dir zurück gefunden hast", wisperte er.

Angels Blick verdüsterte sich. "Zumindest teilweise. Es tut mir leid, dass ich so ein Arsch gewesen bin in den letzten Wochen. Mit scheint, in der letzten Zeit mache ich nichts weiter als mich bei jedem, den ich sehe, zu entschuldigen."

Peter drückte ihr einen brüderlichen Kuss aufs Haar. "Vergeben und vergessen, Hauptsache es geht dir besser, Schwesterchen. Hattet ihr gerade etwas Besonderes vor?"

Caine antwortete an Angels Stelle. "Der Fluss ihres Chis ist unterbrochen, wir wollen Meditieren."

Peter schoss Angel einen überraschten Blick zu, er wusste wie sehr sie es hasste.
"Uh…uh da will ich nicht länger stören, ich geh dann besser wieder."

Caine ergriff Peters Handgelenk, so dass er sich nicht erheben konnte. "Es wäre schön, wenn du uns begleiten würdest, mein Sohn", sagte er in seiner ruhigen Art.

Der junge Mann blickte abwechselnd von Angel zu seinem Vater. Etwas lag hier in der Luft, das er nicht genau zu deuten wusste. Es war schon eine Weile her, seitdem er selbst das letzte Mal meditiert hatte, die Sorge um Angel hatte ihm nicht die nötige Ruhe beschert, die dafür von Nöten gewesen wäre. Schließlich stimmte der Shaolin-Cop mit einem leichten Schulterzucken zu. Bei der Art und Weise, wie sein Vater sein Handgelenk umschloss, war ihm eh klar, dass Caine ihm nicht erlauben würde, sich zu entfernen.

"Gerne, wenn Angel nichts dagegen hat", antwortete er höflich, ganz der hingebungsvolle Sohn.

Diese drückte leicht seine andere Hand. "Nein, im Gegenteil. Ich freue mich, dich um mich zu haben, Bruderherz."

Nachdem das geklärt war, gab Caine Anweisungen. "Angel, du wirst zwischen uns sitzen. Peter, du nimmst hinter ihr Platz."

Er wartete einen Augenblick, bis sein Sohn die geforderte Position einnahm, dann fuhr er fort: "Angel du versuchst dich zu entspannen und wartest, bis Peter und ich unsere Chis vereinigt haben. Wenn wir soweit sind, dann versuche auch du, in einen meditativen Status abzusinken."

"Ja, mach ich", gab die junge Frau ihre Zustimmung.

Es kehrte tiefe Ruhe in dem Raum ein. Angel merkte deutlich, wann sich das Chi von Peter und Caine verband, die Energie floss nun um einiges stärker. Es knisterte förmlich in der Luft. Sie lauschte auf Caines Stimme, die sie schon alleine durch ihren beruhigenden und beschützenden Klang in eine leichte Trance versetzte.

Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie das Konzentrieren so anstrengen würde. Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie das vereinte Chi der beiden versuchte, eine Verbindung zu ihr herzustellen. Das erschreckte sie und sie zuckte zurück. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares erlebt.

Peter legte ihr die Hände auf die Schultern. Plötzlich war sie vollkommen von dieser starken Energie umgeben, wurde mitgerissen in eine Dimension außerhalb dieser Zeit. Sie sah sich selbst, Caine und Peter an einem fremden Ort stehen. Beide hielten sie fest an der Hand. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass sie hier sehen konnte.

"Wo bin ich hier?", erkundigte sie sich, vollkommen überrascht, dass sie nicht laut sprach, sondern den beiden nur durch Gedanken mitteilte, was sie sagen wollte.

Die Antwort kam ebenso mental. "Du bist hier an dem Ort, den du dir vorgestellt hast. Hier wirst du den Grund finden, warum dein Chi blockiert ist."

Angel verstand nicht so ganz, was hier vorging, aber sie stellte zu ihrer Beruhigung fest, dass sie keine Angst verspürte und ihr das Ganze seltsam normal vorkam. Sie löste sich von Caine und Peter, die abwartend im Hintergrund blieben und machte sich daran, diesen fremden Ort zu erkunden. Wie sehr sie es genoss, endlich einmal wieder Farben, Umrisse und Formen erkennen zu können, das wusste nur sie.

In der Ferne entdeckte sie einen See. Sie wünschte sich ihm näher zu kommen und stand plötzlich an dessen Ufer. Nun doch ein wenig ängstlich, blickte sie über die Schulter zurück und sah zu ihrer Erleichterung die beiden Caines, die ihr ermutigend zulächelten.

Sie setzte sich an das Ufer und ließ ihre Hand in das klare, blaugrün leuchtende Wasser gleiten. Kaum berührten ihre Finger die Oberfläche, begann es zu brodeln und seine Farbe zu verändern. Er wurde immer dunkler und schien sie hinein ziehen zu wollen. Angel schrie auf.

"Du musst deine Dämonen bekämpfen", wisperte Caines Stimme durch ihren Kopf.

Auch Peter war zu hören. "Du schaffst das, Schwesterchen. Ich glaube fest an dich."

Angel widerstand dem Sog, der sie in die Tiefe zu reißen drohte. In schneller Reihenfolge liefen Bilder vor ihrem inneren Auge ab. Die Zeit im Waisenhaus, die Anfeindungen, die Strafen, die Kinder, die sie verhöhnten und noch so vieles mehr. Sachen, die sie schon lange vergessen zu haben glaubte.

Sie spürte den unheimlichen Schmerz, der sie innerlich zu zerreißen drohte. Doch dieses Mal nahm sie ihn nicht einfach hin. Damals, da hatte sie schon zum Teil aufgegeben gehabt und sich gegen die Anfeindungen der anderen Kinder nicht zur Wehr gesetzt. Diesmal tat sie es. Sie stemmte sich dem schnellen Reigen der Bilder entgegen und als in einer der Visionen der selbsternannte Rädelsführer der Waisenhausclique ihr mal wieder vor das Schienbein treten wollte, wich sie geschickt dem weitaus größeren Jungen aus und versetzte ihm einen herben Schlag gegen die Schulter, der ihn zu Boden schickte. Kaum dass der Junge den Boden berührte, verschwand die Vision und die Flut an Eindrücken von ihrer Zeit im Waisenhaus endete.

Angel keuchte leise und wischte sich über die Augen, überrascht, dort Tränen vorzufinden. Die Erinnerungen an die vielen Jahre in der Hölle der Einsamkeit befielen sie erneut, aber dieses Mal stellte sie fest, dass es ihr weitaus weniger ausmachte. Ihr kam es so vor, als hätte dieser kurze Disput in ihrer Phantasie einen Teil dieser Qual einfach von ihr genommen. Ihr Verstand sagte ihr, dass das nicht sein konnte und sie sich in dieser fremden Welt hier das alles nur einbildete, aber der andere, irrationale Teil in ihr, der wollte einfach daran glauben und das war es, was für Angel im Moment zählte. Ob oder ob dem nicht so war, das wollte sie zu einem späteren Zeitpunkt ganz für sich alleine heraus finden, hier war weder der Ort noch die Zeit für tiefschürfende Zwiegespräche mit ihrer Seele.

Erneut wandte sie sich dem Wasser zu und blickte hinein. Plötzlich veränderte es sich, wurde zum Spiegel ihrer selbst. Sie erspähte den schrecklichen Anblick, als ihre Eltern zu Tode gekommen waren. Sie sah das Schicksal, dem sie nicht entweichen konnte und sie sah die schemenhaften Gestalten ihrer Eltern auf dem Grund des kristallklaren Sees, die ihr die Hände entgegen streckten.

Ohne groß darüber nachzudenken, ließ sie sich in das Wasser fallen. Einen Moment wurde es schwarz vor ihren Augen, da sie mit unglaublicher Geschwindigkeit auf den Grund gezogen wurde. Panik überfiel sie, bis sie merkte, dass sie hier atmen konnte. Sie erblickte nun ihre Eltern aus nächster Nähe, die ihr voller Trauer entgegen sahen. Tiefe Sehnsucht erfasste die junge Frau. Instinktiv versuchte sie, ihnen näher zu kommen, sie zu umarmen, sie zu spüren, aber irgendetwas verhinderte dies.

"Nein!", rief sie laut aus und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten gegen die unsichtbare Barriere. Sie gab nach unter jedem Schlag, aber durchdringen konnte sie sie nicht. Egal was sie versuchte, sie kam nicht durch. Schließlich hielt sie erschöpft inne.

"Warum kann ich nicht zu euch? Helft mir doch!", flehte sie, aber ihre Eltern standen nur unbeweglich da und taten gar nichts.

Tränen traten der jungen Frau erneut in die Augen. Sie vermischten sich mit dem Nass um sie herum und wurden von den Wellen fortgetragen. Ihre Sehnsucht verwandelte sich plötzlich in große Wut.

"Was ist nur los mit euch? Lasst ihr mich einfach wieder alleine?", warf sie zornig ihren Eltern entgegen, die sich noch immer nicht rührten.

Dann ging ihr ein ganzer Kronleuchter auf. Mit Entsetzen erkannte Angel, dass sie ihren Eltern tatsächlich die gesamte Schuld daran gab, was ihr nach deren Ableben alles wiederfahren war. Glasklar stand ihr vor Augen, dass sie ihnen bis heute nie verziehen hatte, dass sie sie als hilfloses Kind einfach alleine und verängstigt, mehr tot als lebendig, in dieser großen, weiten Welt zurück gelassen hatten.

War dies etwa der Schlüssel zur Lösung ihres Problems? Caines Worte fielen ihr wieder ein. Was sagte er immer? 'Umarme den Schmerz und lass ihn gehen.' Ja, genau, das waren seine Worte. Wenn das nur nicht so verflixt schwer wäre.

Angel unternahm einen weiteren Versuch, zu ihren Eltern zu gelangen. Leider verlief dieser ebenso erfolglos wie der erste. Schließlich erkannte sie, dass sie sich hier und jetzt dieser schlimmsten Pein von allen stellen musste: Dem Tod der Menschen, die ihr am nächsten gestanden hatten.

Im Geiste ging sie das ganze Geschehen noch einmal durch. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung gewesen war, lief das ganze furchtbare Ereignis so deutlich vor ihrem inneren Auge ab, als wäre es erst gestern passiert. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, weinte sie sich ihren ganzen Kummer von der Seele.

Damals, als Kind, da hatte nur das Wissen überwogen, dass man sie alleine gelassen hatte. Heute, als erwachsene Frau sah sie das alles blitzartig vollkommen anders. In aller Deutlichkeit wurde ihr bewusst, dass ihr Vater und ihre Mutter alles unternommen hatten, sie zu schützen, doch am Ende den Kampf gegen den Tod verloren. Es traf sie keinerlei Schuld.

Zu dieser Erkenntnis gelangt, spürte Angel deutlich, wie ein zentnerschweres Gewicht sich von ihren Schultern hob. Wärme durchflutete sie, ihre Wut verrauchte und wurde durch die Liebe ersetzt, die sie ihren Eltern entgegen brachte.

"Mom, Dad, ich habe euch so lieb. Geht in Frieden.", rief sie spontan aus, wohl wissend, dass nun der endgültige Abschied bevor stand.

Ihre Worte schienen Leben in die bis jetzt wie Statuen dastehenden Menschen vor ihr zu hauchen. Die Traurigkeit in den Gesichtern ihrer Eltern verschwand und wurde durch ein glückliches Lächeln ersetzt. Ihre Mutter bewegte ihre Lippen, aber auch wenn kein Wort heraus drang, konnte Angel unschwer erkennen, dass diese gerade die Worte 'Ich liebe dich' formte.

Eine absolute Leichtigkeit breitete sich in Angels Innerem aus. Nun da sie sah, dass es ihren Eltern gut ging und sie sie liebten, konnte sie ihnen alles vergeben und sie ziehen lassen. Es fiel ihr nicht leicht, aber es musste einfach sein. Freudig und traurig zugleich, erwiderte sie das glückliche Lächeln ihrer Eltern und sah zu, wie diese langsam, umhüllt von einem hellen, wunderschönen Licht, aus dem Wasser empor stiegen.

Sie erkannte, dass sie ihr Schicksal annehmen und nicht damit hadern durfte. Just in dem Moment, als ihr das bewusst wurde, wurde sie zurück an das Ufer geschleudert, wo sie einen Moment keuchend liegen blieb. Dann kam sie schwankend auf die Beine und warf einen Blick zurück. Der See war verschwunden, stattdessen entdeckte sie eine wunderschöne, sonnenüberflutete Wiese, die bis in den Horizont zu reichen schien.

Mit Befriedigung im Herzen kehrte sie zu Caine und Peter zurück, die ihr nun entgegen eilten, da ihr das Gehen immer schwerer fiel. Beide erfassten ihre Hände und im nächsten Augenblick befand sie sich wieder mitten in ihrem Wohnzimmer, wo sie erschöpft nach hinten sank und von Peter aufgefangen wurde. Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, sie vergrub den Kopf an seiner Schulter.

Der junge Cop beugte sich ein wenig zurück, um ihr ins Gesicht sehen zu können. "Was ist los?", erkundigte er sich besorgt.

Nur mit Mühe hielt die junge Frau weitere Tränen zurück. Es dauerte eine Weile, bis sie beinahe unhörbar flüsterte: "Ich habe so gehofft, auch hier wieder sehen zu können. Aber um mich herum herrscht nur Dunkelheit. Es war so schön, endlich wieder den Himmel zu sehen, all die Farben, das Glitzern der Sonne auf der Wiese. Warum kann es denn nicht auch hier so sein?"

Peter drückte einen hilflosen Kuss auf ihr Haar. "Darauf habe ich leider keine Antwort. Eine Krankheit braucht nun mal ihre Zeit, es tut mir so leid."

Er wechselte einen fragenden Blick mit seinem Vater, doch dieser zuckte nur die Schultern und erhob sich graziös, um einen Tee für sie aufzubrühen.

Ein tiefer Seufzer hob Angels Brust. So schnell wie ihre Traurigkeit gekommen war, so schnell schien diese wieder zu verfliegen.

"Es bleibt mir wohl eh nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren." Ein leichtes, wenn auch noch sehr zittriges Lächeln erschien auf ihren Lippen. "Aber wenigstens konnte ich meine Eltern noch ein letztes Mal sehen und ich weiß nun, dass es ihnen gut geht."

Der junge Cop drückte aufmunternd ihre Schultern. "Insofern hat sich deine erste Tiefenmeditation doch mehr als nur gelohnt, findest du nicht auch?"

Sie nickte leicht. "In der Tat. Wenn ich nun noch alles verstehen könnte, dann wäre ich beinahe glücklich. Kannst du mir erklären, was ich da gemacht habe, oder was da passiert ist?"

"Du hast den Strom deines Chis befreit, nun kann es frei fließen", gab Peter zurück.

Angel verzog das Gesicht. "Na toll, damit kann ich nun viel anfangen. Ich verstehe das alles nicht."

Peter zog die junge Frau mit hoch und führte sie zur Couch, wo er sich dicht neben sie setzte. Fürsorglich schlang er einen Arm um ihre schmalen Schultern, denn er merkte deutlich, wie erschöpft sie noch immer war.

"Glaube mir, Schwesterherz, der Tag wird kommen, da wirst du es verstehen. Ich merke deutlich, dass dein Chi wesentlich stärker geworden ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, du wirst in der nächsten Zeit mit einigen Überraschungen zu kämpfen haben."

"Nun jag mir bloß keine Angst ein, Brüderchen. Ich bin schon durcheinander genug", murmelte Angel wenig erfreut und versteckte ihr Gesicht zwischen ihren Händen. "Kannst du mir wenigstens erklären, was du damit meinst?"

Peter grinste schief und tätschelte ihren Rücken. "Nun ja, ich bin mir nicht sicher, wie ich das in Worte fassen kann. Ich kann nur von meinem Erlebnis meiner ersten richtigen Tiefenmeditation ausgehen. Als ich das hinter mir hatte, da merkte ich, dass ich plötzlich alles viel intensiver erlebte. Irgendetwas muss da passieren, was unsere Fähigkeiten verstärkt."

"Herrje, du sprichst langsam aber sicher auch in Rätseln. Was meinst du denn damit schon wieder? Rieche ich besser, höre ich besser, kann ich plötzlich Klavier spielen oder was?", erkundigte sich die junge Frau, leichte Ungeduld lag in ihrer Stimme.

"Nein, das nicht. Dieser Anstieg an Intensität bezieht sich viel eher auf die mentale Ebene." Hilfesuchend schaute er seinen Vater an, der mit einem kleinen Tablett, auf dem sich drei Teetassen befanden, zu ihnen kam. "Paps, kannst du besser erklären, was ich meine?"

"Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Alles kann geschehen, oder auch nichts. Ob sich etwas tut, das obliegt nicht uns, es zu entscheiden.", entgegnete Caine kryptisch. Unzeremoniell reichte er Angel eine Tasse mit dem Tee. "Trink das, es wird dir helfen, dich zu entspannen."

"Danke. Aber das beantwortet noch immer nicht meine Fragen.", muffelte sie. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk und verzog sofort das Gesicht. "Igitt, was ist denn das? Das schmeckt ja furchtbar."

Peter lachte laut auf, er kannte die abenteuerlichen Kräutermischungen seines Vaters nur zu genau. "Tja, auch an diese Tees wirst du dich gewöhnen müssen. Paps verabreicht sie nur allzu gerne."

"Und an was muss ich mich noch alles gewöhnen?", erkundigte Angel sich argwöhnisch in dem Versuch, das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück zu lenken.

Caines Hand legte sich auf ihr Herz. "Das zeigt allein die Zeit. Meine Tochter, es gibt keine Antworten auf deine Fragen. Keiner kann wissen, was in deiner Zukunft liegt. Es obliegt dir, den Pfad zu wählen, den du für richtig erachtest." Mit sanften Kreise strich er über ihre Wange und ihre Schläfen. "Und nun, mein Kind, musst du dich ausruhen."

Angel schaffte es gerade noch ergeben zu nicken, dann begann der Tee, als auch die beruhigende Nähe Caines zu wirken und sie glitt sanft in einen entspannenden Schlaf.

 

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