Peter atmete tief durch, fuhr ein paar Mal mit den Händen durch sein Haar und senkte den Blick. Gott sei dank war die deutliche Ausbuchtung in seiner Jeans wieder kleiner geworden. Er griff nach einem Hemd, das schon seit dem Wochenende auf der Kommode lag, und streifte es sich über. Ja, so konnte er Kermit an der Tür empfangen. Bevor Peter die Tür öffnete, atmete er nochmals tief ein und aus. Mit einem erzwungenen Lächeln im Gesicht trat er hinaus. "Kermit, du bist ja schon früh unterwegs." Kermit sah ihn an und grinste. "Na, haben Prinz und Prinzessin gut geschlafen?" "Aber sicher, tief und fest. Komm rein." Kermit drückte dem überraschten Shaolin einen Koffer in die Hand und murmelte. "Jody meinte, Kim könne diese Sachen vielleicht gebrauchen." Dann drängte er sich an dem jungen Mann vorbei in die Hütte und schaute sich interessiert um. Sein Blick blieb auf dem Liebevoll gedeckten Tisch hängen, gleichzeitig knurrte lautstark sein Magen. Peter schmunzelte. "Willst du mit uns frühstücken?" Kermits Gesicht hellte sich auf. "Gerne." Eine Tür quietschte und Kermit wirbelte herum. Er entspannte sich, als er Kim erblickte. *Bezaubernd*, dachte er, während er sie unauffällig betrachtete. Ihr Haar hing in einem dick geflochtenen Zopf über ihre Schulter. Ihre Gesichtszüge wirkten locker und gelöst, offensichtlich hatte sie den gestrigen Abend und der Schrecken, der damit verbunden gewesen war, gut überstanden. "Guten Morgen, Kim", begrüßte er sie. "Guten Morgen, Kermit. So früh schon hier?", erwiderte Kim. Kermit nickte und wandte sich erneut Peter zu. "Ich bringe schlechte Nachrichten. Leider wissen wir noch immer nicht, welches weibliches Wesen in eure Hotelsuite eingebrochen ist. Diese Schnarchnase von Portier hat sie sich nicht mal richtig angesehen. Er wusste nur, dass sie endlos lange Beine besaß. Sieht den Leuten wohl nicht gerne ins Gesicht. Im Laufe des Tages werden wir die Suite noch genauer unter die Lupe nehmen, vielleicht hat die große Unbekannte irgendwo eine Spur oder einen Fingerabdruck hinter lassen. Bis dahin heißt es jedoch, abwarten. Tut mir leid, Peter, dass ich dir im Moment nicht mehr sagen kann." Der ehemalige Cop verzog sein Gesicht. "Also wieder eine Sackgasse, verdammt." Kim blickte unauffällig zuerst auf Peter, dann auf Kermit. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass ihm offensichtlich etwas auf der Seele lag, das er nicht vor ihr mit seinem Freund besprechen wollte. Sie räusperte sich. "Irgendwie hab ich das Gefühl, ihr wollt alleine sein", warf Kim mit einem leicht verlegenen Lächeln ein. "Ich hol dir noch eine Tasse aus der Küche, Kermit. Bin bald wieder zurück." Mit diesen Worten verschwand die junge Frau nach nebenan, noch bevor einer der beiden Männer etwas entgegnen konnte. Kermit verschenkte keine Zeit. Kaum schlug die Tür hinter der Sängerin zu, senkte er seine Stimme und sprach Peter an. "Es ist vielleicht nur eine dumme Idee." Peter hob neugierig den Kopf. "Was ist eine dumme Idee?" "Vielleicht haben die ganzen Vorfälle gar nichts, bzw. nur am Rande, mit Kim zu tun, sondern eher mit ihren Eltern.", gab Kermit zurück, die Küchentüre über Peters Schultern hinweg beobachtend, um sicher zu stellen, das Kim nicht unerwartet auftauchte. Peter strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. "Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst." "Ganz einfach, wir haben alles, was mit Kim zu tun hat unter die Lupe genommen und nichts, aber auch gar nichts, herausgefunden. Alle Personen in ihrem Umfeld, mit denen sie in Berührung kommt, sind sauber. Vielleicht waren ihre Eltern in irgendwelchen Schwierigkeiten, wer weiß? Vielleicht war der Unfall kein Unfall. Verstehst du, was ich meine?" Peter nickte. "Was schlägst du vor?" Kermit deutete zur Küche. "Du solltest Kim fragen, was sie über damals noch weiß. Es tut mir leid, dass ich das verlangen muss, aber ich bin eindeutig an einem Punkt angekommen, an dem wir nun andere Wege beschreiten müssen. Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn ich nicht weiter komme." Oh ja, Peter konnte sich genau an Kermits Temperamentsausbrüche erinnern. Lief es bei seinem Kumpel nicht nach Plan, dann verwandelte er sich in ein übellauniges, mürrisches Monster. Keiner traute sich dann, ihn anzusprechen, geschweige denn, sein Büro zu betreten. Als Peter noch im Revier arbeitete, wurde meistens er vorgeschickt, um die Höhle des Löwen zu betreten, denn es schien, als würde der Ex- Söldner auf seine Nähe immer nur halb so wütend reagieren, wie auf alle anderen, Paul und Captain Simms mal ausgenommen. Peter atmete hörbar ein und kehrte von seinem kurzen Ausflug in die Vergangenheit zurück. "Okay, ich rede mit Kim. Erwarte allerdings nicht zu viel. Sie weigerte sich bisher standhaft, darüber zu reden." "Versuche es trotzdem. Ich habe bei den zuständigen Behörden alle Unterlagen über den Unfall angefordert. Ich sollte sie eigentlich heute Mittag erhalten. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei dir." Kermit unterbrach sich schnell und deutete in Kims Richtung, die ihnen lächelnd entgegen kam. "Ich hoffe, die Zeit hat gereicht für euch beide. Falls nicht, dann sagt mir es einfach", meinte Kim und hielt Kermit die gefüllte Tasse hin. Kermit bedankte sich höflich, nahm gemeinsam mit Peter am Tisch Platz und trank einen großen Schluck aus der heißen Kaffeetasse, die nun vor ihm stand. "Ich habe heute Morgen mit ihrem Manager telefoniert. Wir sind ihren Terminplan durch gegangen. Jason meinte, er könne drei Termine diese Woche absagen und verschieben. Der Fototermin nächste Woche für ein CD Cover muss allerdings unbedingt eingehalten werden. Es sei zu wichtig, meinte Jason. Für die übernächste Woche stand nur ein Studiotermin an, den er auch verschieben konnte. Wir haben also fast 2 Wochen Zeit, um ihren Angreifer zu finden. Danach ist es fast unmöglich, für ihren Schutz ausreichend zu sorgen, da sie ab diesem Zeitpunkt, jeden Tag in einer anderen Stadt, zur Promotion unterwegs sind." Der Cop drehte seinen Kopf zu Peter. "Demzufolge meine ich, es ist am Besten, wenn du mit Kim noch ein paar Tage hier draußen bleibst." Peter nickte und biss herzhaft in ein Brötchen. Mit vollem Mund murmelte er. "Verstärkung?" "Ich stelle dir Joe ab, er wird hier um die Hütte Streife fahren und euch im Auge behalten. Außerdem wird er das Gelände hin und wieder zu Fuß abgehen, um sicher zu sein, dass sich niemand unerlaubt nähert. Ich denke, ihr seid hier sicher aufgehoben. Niemand wird diesen Ort mit Kim in Verbindung bringen." Kermit blickte zur Uhr, trank seine Tasse in einem Zug aus und erhob sich. Peter tat es ihm gleich. "Ich muss los, die Arbeit wartet. Danke für diesen wundervollen Kaffee." Er lächelte der jungen Frau aufmunternd zu. Kim erwiderte das Lächeln. "Gerne geschehen, jederzeit wieder." Peter brachte Kermit zur Tür, wo ihm dieser freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Der Ex-Söldner senkte die Stimme, so dass Kim sie nicht hören konnte. "Hör zu, Peter. Falls du Zeit findest, dann komm bei mir vorbei. Es gibt einige Dinge, die ich nicht hier vor Kim mit dir besprechen möchte." Peter blickte sich nach der jungen Frau um, die erneut in der Küche verschwand. "Okay, ich muss nur noch ein geeignetes Versteck für sie finden. Ich kann sie ja schlecht alleine hier draußen lassen." Kermit nickte, schob seine Brille zurecht und trat hinaus. "Wenn dir gar nichts anderes einfällt, dann gib sie solange in Joes Obhut. Bis später." Peter stand noch eine Weile vor der Tür und beobachtete Kermits Abfahrt. Dann kehrte er in die Hütte zurück auf der Suche nach Kim. *Zwei Wochen*, schoss es ihm durch den Kopf. Zwei Wochen durfte er sie noch in seiner Nähe haben. Es kam ihm wie ein Hauptgewinn in der Lotterie vor. Wer wusste denn schon, ob er sie danach je wieder sehen würde? Kim saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Peter setzte sich dicht an sie heran und sah ihr sehnsüchtig in die Augen. Nein, daran durfte er jetzt nicht denken und so konzentrierte er sich auf die Aufgabe, die ihm sichtlich schwer fiel. "Kim, ich muss mit dir reden." Die junge Frau blickte ihn ängstlich an. Sein Ton klang sehr ernst und sie fühlte, dass ihn irgendetwas belastete. "Was hast du, Peter? Ist irgendetwas geschehen?" Der ehemalige Cop schüttelte den Kopf. "Nein, es ist alles in Ordnung. Wir haben allerdings ein Problem, denn wir kommen in unseren Ermittlungen nicht voran. Wir stecken fest." Für einen kurzen Moment hielt Peter inne. "Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll und es fällt mir sehr schwer, dich darum zu bitten. Aber ich würde gerne mit dir über deinen Unfall reden." "Der Unfall? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst." Peter nahm ihre Hand und hielt sie fest. "Der Unfall, bei dem deine Eltern starben. Was weißt du noch davon?" Kim veränderte ihre Position auf dem Sofa, so dass sie ihm nun zugewandt da saß. Sie strich sich eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht. "Nicht besonders viel, meine Erinnerung ist lückenhaft. Glaubst du, der Überfall auf mich hat was mit dem Unfall von damals zu tun?" Peter ließ ihre Hand los. "Wir sind uns nicht sicher, es ist nur..." Er schwieg und suchte nach den richtigen Wörtern. "…ein Strohhalm." vollendete Kim seinen Satz und nickte. Sie atmete tief durch und lehnte sich zurück. Peter hielt angespannt den Atem an. Er rechnete damit, dass Kim kein Wort sagen würde. Simon zufolge wollte Kim bisher mit niemanden über jenen Tag sprechen, warum sollte es dann bei ihm anders sein? "Okay, was willst du wissen?" Peter zuckte zusammen. Ihre Reaktion überraschte ihn und für einen kurzen Moment zögerte er. "Erzähl mir einfach, was du von damals noch weißt. Ich höre dir zu und falls ich etwas Genaueres wissen will, frage ich dich." Kim strich sich fahrig die Bluse glatt, ihre Finger zitterten leicht. Man sah ihr an, dass es ihr nicht leicht fiel etwas zu dem Thema zu sagen. "Gut." Sie machte eine kleine Pause. "Also, wir, meine Mom, mein Dad und ich waren an jenem Abend in einem Konzert. Ich glaube, es war Beethoven oder Mozart, so genau weiß ich es nicht mehr. Dad kam auf die Idee, dieses Ereignis zu besuchen. Er liebte die Musik über alles, schließlich war er selbst ein begnadeter Musiker. Wir saßen also in diesem Konzert und ich habe Dad zum ersten Mal weinen sehen. Er war so ergriffen von diesen wunderschönen Klängen, dass ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Dennoch wirkte er an diesem Abend sehr glücklich." Kim schwieg und biss sich auf die leicht bebende Unterlippe. Peter konnte direkt körperlich fühlen, wie die junge Sängerin mit ihren Gefühlen kämpfte. Er rutschte näher an Kim heran und legte ihr die Hand auf den Rücken. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie schmerzhaft Erinnerungen sein konnten. Plötzlich konnte er es nicht mehr über sich bringen, ihr dieses Leid zuzumuten. "Es ist wohl doch keine so gute Idee. Wir sollten es besser lassen, ich will dich nicht mit Erinnerungen quälen." Kim erwiderte seinen besorgten Blick. "Nein, diese Erinnerungen schmerzen nicht, im Gegenteil. Es ist nur schon so lange her, dass ich an diesen Abend gedacht habe. Keine Sorge, es geht schon." Kim holte erneut tief Luft und strich sich mit zittrigen Fingern das Haar aus dem Gesicht. "Das Konzert dauerte ungefähr zwei Stunden. Die ganze Zeit über saß ich still neben Dad und habe ihn beobachtet. Anschließend führte uns Dad in ein exklusives Restaurant. Er hat Champagner bestellt und das beste Essen, das es gab." "Gab es was zu feiern oder war das Konzert der Grund für euer Essen?" Kim schüttelte ihren Kopf und ihr langer Zopf landete auf ihrer Brust. Sie nahm das Ende in die Hand und spielte gedankenverloren damit. "Es gab einen ganz bestimmten Anlass für diesen Abend. Dad stand feierlich auf und bat alle um Ruhe. Mom hielt seine Hand ganz fest und damals fragte ich mich warum. Paps strahlte übers ganze Gesicht, als er verkündete, dass er von der Staatsoper ein Angebot erhalten hatte, im Orchester mitzuspielen. Ich war so stolz auf ihn! Das jahrelange Qual und all die Warterei führten ihn endlich zum Ziel. Noch nie habe ich Dad glücklicher gesehen, als an jenem Abend. Mom hat vor Freude geweint." Eine Träne rollte Kim über die Wange, als sie leise aufseufzte. Peter legte ihr die Hand an die Wange und strich liebevoll die Träne weg. "Hey, Kleines. Nicht weinen, ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt aufhören. Wir können später weitermachen, okay?" Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie sachte an sich. "Komm her, meine Süße." Die junge Frau schmiegte ihren Kopf an Peters Brust und er strich ihr tröstlich über das Haar. "Es tut mir leid, dass ich dir das antun muss." Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. Kim schlang ihren Arm um Peters Taille und drückte sich fest an ihn. Sie liebte es, wie er sie "Kleines" nannte und der Klang seiner Stimme wirkte auf sie sehr beruhigend. Er war im Moment der Einzige, der ihr Halt geben konnte. Eine ganze Weile genoss sie die Umarmung, dann löste sie sich zögernd von ihm. "Bist du okay?", erkundigte sich Peter fürsorglich. Kim nickte. "Lass uns weitermachen, bitte, bevor ich den Mut wieder verliere." Peter betrachtete Kim aufmerksam. "Bist du dir sicher? Ich will dich nicht quälen und du musst das nicht tun, das weißt du." "Ganz sicher. Es geht schon. Ich möchte die Angelegenheit nur so schnell wie möglich hinter mich bringen." Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jeans und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. Dann verstaute sie es wieder in ihrer Hose. "So gegen Mitternacht verließen wir das Restaurant. Die Straßen waren fast menschenleer, nur ab und zu kam uns ein Auto entgegen. Wir fuhren gerade über den Bahnübergang, zwei Straßen vor unserem Haus, als ich plötzlich dieses Auto sah." "Ein Auto? Wie sah es aus? Weißt du die Farbe noch?" Kim rieb sich über die Stirn und schüttelte den Kopf. "Es gab nicht sehr viel Licht an dieser Stelle, ich weiß nur noch, dass es ein dunkles Auto war." "Das bringt uns nicht viel weiter. Dunkle Wagen gibt es wie Sand am Meer. Erinnerst du dich vielleicht an das Model, Kim? Handelte es sich um einen Ford, einen Mercedes oder ein anderes europäischen Auto?" Kim rieb sich niedergeschlagen über die Stirn und bekannte mit bebender Stimme: "Peter, nein, ich...ich weiß es nicht." Sie griff fest nach seinem Arm. "Glaubst du, der Unfall wäre vermeidbar gewesen? Wenn ich früher reagiert hätte, dann wäre alles womöglich nie geschehen." Tröstend legte der ehemalige Cop seine Hand über die Ihrige. "Kim, Kleines, bitte tu dir das nicht an. Nichts und niemand konnte an diesem Unfall etwas ändern, am allerwenigsten du. Du warst damals erst 16, wie solltest du abschätzen, was geschehen würde?" Kim senkte ihren Blick. "Vielleicht hast du Recht. Ich habe diesen Wagen gesehen, doch als Dad dann losfuhr, wurde ich durch Mom abgelenkt." Peter stand abrupt auf. Kim schaute so verzweifelt drein, dass er es für richtig hielt, jetzt aufzuhören. "Hast du Durst?" Kim nickte. Der Ex-Cop erhob sich und machte sich auf den Weg in die Küche. Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit kaltem Mineralwasser. Mit den Getränken kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Kurz vor dem Sofa blieb er stehen und beobachtete Kim unauffällig. Sein Herz wurde schwer. Er zwang sie an ihre Eltern zu denken, obwohl er wusste, wie schmerzlich diese Erinnerungen waren. Was für ein Unmensch war er nur? Peter atmete tief ein. Kim bedeutete ihm sehr viel und er hasste es –und auch sich dafür-, ihr so weh tun zu müssen. Andererseits stand ihr Leben auf dem Spiel und ihm blieb nichts anderes übrig. "Soll ich dir helfen, Peter?" Kims Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Nein, ich bin schon da." Er trat in ihr Blickfeld und überreichte ihr in theatralischer Geste das Glas. "Bitte sehr, Madam, ihr bestelltes Wasser." Die angespannte junge Frau honorierte Peters Bemühungen, sie ein wenig von all den trüben Gedanken abzulenken, in dem sie sein Spiel mitspielte und mit näselnder Stimme sagte. "Danke mein Herr, sie geben sich aber viel Mühe." Leider hielt die spielerische Stimmung nicht sehr lange an, denn sie wurde schnell wieder ernst und straffte sich zusehends. "Wollen wir weitermachen?", erkundigte sie sich. "Nur wenn du willst. Wir können auch eine Pause machen." Kim streckte ihre Beine aus und drückte sich in die Ecke vom Sofa. Peter setzte sich wieder neben sie, ergriff ihre Beine und hob sie auf seinen Schoss. In kreisenden Bewegungen begann er sanft, ihre Unterschenkel zu massieren. Kim seufzte leise und entspannte sich ein wenig. Dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. "Ich fürchte, ich bin dir keine große Hilfe. Von dem Moment, als wir über den Bahnübergang fuhren, weiß ich nichts mehr. Alles, an das ich mich erinnern kann, sind Schreie, Lärm, splitterndes Glas, Schmerzen und eine nicht enden wollende Schwärze um mich herum. Als ich meine Augen wieder öffnete, lag ich im Krankenhaus, angeschlossen an viele Kabel, Schläuche und einem dicken Kragen um den Hals. Ich konnte nicht mal an der Beerdigung meiner Eltern teilnehmen. Erst drei Wochen später konnte ich ihr Grab besuchen." Für einen kurzen Moment schloss Kim ihre Augen. Peter strich erneut beruhigend über ihre Beine. Sie öffnete ihre Lider und starrte die Decke an. "Es ist alles so verwirrend." Peter hielt inne und sah Kim an. "Was ist verwirrend?" Kim straffte ihren Oberkörper ein wenig. "Der Therapeut, der mich behandelte, meinte, die Erinnerung an den Unfall sei nicht verloren. Ich hätte alles nur hinter einem dicken Schutzschild versteckt." Peter hielt in der Massage inne und dachte nach. Natürlich, das könnte die Lösung sein. Seine Gedanken reisten in die Vergangenheit. Auch er hatte damals seine Erinnerung tief in sich vergraben gehabt, doch sein Vater hatte ihm dabei geholfen, sie wieder hervor zu holen. Zu dumm, dass sich sein Vater nicht in der Stadt befand, er wusste immer einen Rat. Peter war zwar ein Shaolin, leider gab es jedoch viele Dinge, die er noch lernen musste und dies gehörte eindeutig dazu. Kims weiche Stimme holte Peter aus seinen Gedanken. "Peter, geht's dir gut?" "Entschuldige bitte. Was hast du gesagt?" "Ich sagte, dass mein Therapeut es mit Hypnose versuchte. Allerdings erfolglos. Er sagte, mein Gehirn sei wie zugemauert. Er konnte diese Mauer nicht durchdringen." Kim seufzte auf und sackte ein wenig in sich zusammen. "Ich würde so gerne wissen, was ich in meinem Kopf habe." Peter strich ihr sanft über die Hand. "Manchmal ist es nicht so angenehm, alles zu wissen. Es gibt gewisse Dinge, die besser verborgen bleiben." "Ich weiß, trotz allem ist es seltsam, dass alles, was ich in jener Nacht vergessen habe, eventuell noch da ist. Bisher dachte ich, die Erinnerung würde irgendwann einfach wieder auftauchen, aber leider muss ich feststellen, dass ich mich geirrt habe. Es sind 12 Stunden, 12 Stunden die ich komplett verloren habe. Verstehst du mich? Ich will diese Stunden zurück haben, auch wenn mich der Schmerz dabei umbringt." Ein leichtes Zittern durchzog ihren Körper und Peter spürte, wie sie mit ihren Gefühlen kämpfte. Er streichelte zärtlich ihre Knie. "Wir hören jetzt besser auf, es reicht für heute. Pause." "Pause", wiederholte Kim. Die junge Frau stand auf und stellte sich ans Fenster. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und blickte hinaus in die von der Sonne golden angeleuchteten Bäume. Es war ein Anblick, der ihr fast den Atem raubte. Grün, Orange, Braun, Purpur und Blau vereinten sich zu einer Kombination, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Alles hier wirkte so friedlich und sie überkam ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. "Wie schön es hier ist." Kim ließ ihre Augen erneut über die wunderschöne Landschaft streifen und blickte in den hellblauen Himmel, an dem sich hier und da einige Schäfchenwolken zeigten. "Hier möchte ich immer sein, alles vergessen, nur die Bäume, die Sonne und du." Mit diesen Worten drehte sie sich zu Peter um und der Ausdruck in ihren Augen verursachte in Peter ein elektrisierendes Gefühl, dass seinen ganzen Körper durchzog. In Kims Blick lag so viel Sehnsucht, Liebe und Vertrauen, dass ihm wieder einmal bewusst wurde, wie einzigartig diese hübsche Frau war. "Können wir nicht ein wenig spazieren gehen?" Kim drehte sich zurück zum Fenster. Peter dachte nach. Ja, die Idee war gar nicht schlecht. So gab es eine Möglichkeit, Kim von ihrem Kummer abzulenken und ein wenig frische Luft tat ihnen beiden gut. Er stellte sich hinter Kim, schlang seine Arme um ihre Taille und legte sein Kinn auf ihre Schulter. "Okay, warum nicht? Lass uns gehen. Aber denk daran, wir dürfen uns nicht zu weit von der Hütte entfernen." "Klar, ich weiß schon." Peter ließ Kim los, verschloss alle Fenster und kontrollierte die Hütte. Sie waren kaum zur Tür hinaus, als ein Polizist um die Ecke kam. Er stieg die Treppe hoch und streckte Peter seine Hand entgegen. "Hallo, ich bin Joe. Kermit meinte, ich solle auf sie aufpassen." Er blickte sich kurz um. "Wohin wollen sie gehen?" "Nur einmal um die Hütte." Joe nickte. "Okay, ich werde sie im Auge behalten." Peter gab ihm zu verstehen, dass das nicht nötig sei. Joe ließ sich jedoch nicht beirren und bestand hartnäckig darauf. "Ich tue nur meinen Job und Kermit wird sauer, wenn ich seine Anweisungen nicht befolge." Peter verstand genau, was Joe mit dieser Bemerkung meinte. Er nickte kurz. Auf keinen Fall wollte er, dass Joe seinetwegen Ärger mit Kermit bekam. Er nahm Kims Hand und langsam gingen sie die Stufen hinab. Kurz darauf wanderten sie einen kleinen Waldweg entlang. Kim atmete tief durch. "Herrlich diese Luft, was habe ich nur in den letzten Jahren verpasst." Sie legte ihren Arm um Peters Taille und schmiegte sich eng an ihn und. "Glaubst du, ich werde mich jemals an die verlorenen Stunden erinnern?" Peter seufzte auf. Die Tatsache, dass Kim sich noch immer damit quälte, machte ihn ein wenig traurig. Er hatte das große Glück gehabt, dass sein Vater ihm damals helfen konnte. Nur wie sollte er, Peter, Kim helfen? Es gab nur eine Möglichkeit Kims Erinnerung zurück zuholen und das schien Lo Si zu sein. "Peter?" "Verzeih, ich war in Gedanken." Er blieb stehen und hielt Kim an den Schultern fest. "Es gibt da jemanden, der dir vielleicht helfen kann." "Wie meinst du das?" "Wir nennen ihn den Ehrwürdigen, ein sehr alter, weiser Mann." Kim legte Peter ihre Hände auf die Brust und sah ihn hoffnungsvoll an. "Wo ist dieser alte Mann?" "In Chinatown." "Können wir nicht zu ihm, jetzt sofort?" Peter lächelte und zupfte ihr ein Blatt aus den Haaren. "Kim, Kleines, es ist schon ziemlich spät und ich muss mich zuerst mit Kermit absprechen. Ich werde ihn gleich morgen früh anrufen und alles weitere mit ihm besprechen. Okay? Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt nicht mehr an, oder? Hab einfach ein wenig Geduld und genieße unseren Spaziergang." Kim strich mit dem Finger über Peters Wange. "Okay, ich gebe mich geschlagen." Sie blickte sich suchend um und plötzlich zog sie Peter kräftig an der Hand. "Komm." "Wohin?" Kim lachte, als sie Peter hinter einen dicken Baum zog. Sie drückte sich ganz eng an ihn heran und flüsterte ihm zu. "Ich wollte schon immer mal mit einem Mann im Wald knutschen." Ihre blauen Augen leuchteten so intensiv, wie an dem Tag, als er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Peter schmunzelte und zog Kim fester an sich heran. Er senkte seinen Kopf und kurz darauf berührten sich ihre Lippen. Kim öffnete ihren Mund und Peter liebkoste ihre süßen Lippen mit seiner Zunge. Er legte seine Hände sanft um ihr Gesicht und hielt sie zärtlich fest. "Hallo? Mr. Caine, ich kann sie nicht mehr sehen, wo sind sie?" Peter zuckte zusammen und stieß einen kleinen Fluch aus. Dieser Joe schien fest entschlossen zu sein, den Job als ihr Bewacher gut zu machen. Nur sehr ungern trennte er sich von Kim. "Wir sollten uns wieder zeigen." Peter streckte seinen Kopf hinter dem Baum hervor. "Wir sind hier, alles in Ordnung." Dann wandte er sich zu Kim. "Lass uns zurückgehen, ich will endlich mit dir allein sein." Kim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es schien wohl ihr Schicksal zu sein, ständig unterbrochen zu werden. Immerhin geschah es schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Eng Umschlungen spazierten sie zur Hütte zurück. Es dämmerte schon, als Peter die Tür zur Hütte aufschloss. Er blickte sich nach allen Seiten um und lauschte einen kurzen Moment in die Stille der Hütte hinein, bevor er Kim seine Hand auf den Rücken legte und sie sanft hinein schob. Dann drehte er sich halb herum, schloss ab und blieb plötzlich wie erstarrt stehen. Kim schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte, denn ihre Stimme klang ängstlich als sie fragte: "Was hast du?" Peter starrte noch immer vor sich hin und versuchte, die unterschiedlichsten Gefühle zu verarbeiten, die auf ihn eindrangen. Er spürte deutlich die Anwesenheit einer anderen Person. Die Aura des Fremden kam ihm sehr bekannt vor, dennoch brauchte er eine Weile, um zu erkennen, um wen es sich handelte. Unbändige Freude durchströmte ihn, gepaart mit der bangen Erwartung, was ihn wohl erwarten würde. Die Vorsicht und die Angst überwogen. Bemüht, seinen Worten einen ruhigen, beinah nebensächlichen, Klang zu geben, sprach der junge Priester in die Hütte hinein. "Seit wann bist du wieder zurück, Paps?" Peter drückte den Lichtschalter und betrachtete seinen Vater ohne merkliche Regung von oben bis unten, noch immer nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Er tat das, was er im Moment für das Ungefährlichste hielt – unpersönliche Fragen stellen. "Wie kommst du hierher? Keiner, außer Kermit, wusste, dass ich hier draußen bin." Caine zuckte, in altbekannter Manier, kurz mit den Schultern und neigte den Kopf fragend zur Seite, so als wolle er das ungewöhnliche Verhalten seines Sohnes abschätzen. "Ich habe gespürt, dass du hier bist.", meinte er in seiner ruhigen Art. Forschend sah Peter seinen Vater an. Es war so schön, nach all der langen Zeit endlich einmal wieder seine Stimme zu hören und noch viel besser war es, ihn in Fleisch und Blut vor sich stehen zu sehen. Zumindest äußerlich hatte sich Kwai Chang Caine kaum verändert, sah man von den, wenn auch jetzt deutlich kürzern Haaren ab, die in der Zwischenzeit wieder nach gewachsen waren. Und dennoch, irgendetwas in seinem Inneren hielt Peter davon ab, auf seinen Vater zuzugehen, und ihn in die Arme zu schließen. Tausend Fragen schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf...Wo bist du gewesen? Was hast du gemacht? Warum hast du dich nie gemeldet? Magst du mich noch? Wieso tauchst du gerade jetzt auf? Aber auch hier spürte er die Barrikade in seinem Denken und Fühlen, die ihn davon abhielt, all die Fragen heraus zu sprudeln. Im Moment kam er sich eher vor, als würde er vor einem Fremden stehen, nicht aber vor seinem Vater. Warum nur? Hatte er womöglich Angst vor den Antworten, die er auf seine Fragen erhalten würde? So kam es, dass Peter ungewöhnlich still blieb. Kim stand die ganze Zeit schweigend daneben, dann griff sie nach Peters Arm und trat unwillkürlich näher an ihn heran. So nah, dass er das aufgeregte Klopfen ihres Herzens wahrnehmen konnte. "Wer ist das, Peter?" Peter zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, dass er Kim mit seinem Verhalten Angst einjagte. Er beeilte sich zu sagen: "Das ist mein Vater, Kwai Chang Caine." "Dein Vater?" Kim musterte den fremden Mann forschend und gleichzeitig neugierig. Peter spürte beinahe augenblicklich, wie Kims Angst verflog. Sie musste wohl nun ebenfalls die angenehme Ruhe spüren, die Caine so gut wie immer ausstrahlte. Außerdem hatte ihr Simon immer nur Gutes über Caine berichtet, wie Kim Peter selbst erzählt hatte. In einem leichten Anflug von Eifersucht schaute er zu, wie Kim sich von ihm löste und mit ausgebreiteten Händen auf Caine zuging. Wieso konnte er dies nicht auch tun? Alles in ihm schrie regelrecht danach, seinen Vater endlich wieder in die Arme zu nehmen, doch er konnte sich einfach nicht bewegen. "Mr. Caine, welch eine Ehre, sie endlich kennen lernen zu dürfen", durchbrach Kims sehr erfreut klingende Stimme Peters Gedankengang. Caine nahm Kims Hände in die Seinen, verbeugte sich leicht vor ihr und hauchte ihr einen Kuss auf den linken Handrücken. "Einfach nur Caine...Und es ist mir ebenfalls eine Ehre...Miss...?", gab er zurück. Der ältere Shaolin zog eine Augenbraue nach oben und blickte fragend zu Peter. "Mein Sohn, willst du uns nicht vorstellen?" "Ja, es ist unhöflich, wenn ich es selbst machen muss", warf Kim mit einem leicht falsch klingenden Lachen ein, bemüht die seltsame Atmosphäre zu entspannen. Erstaunt stellte Peter fest, dass er sich wieder bewegen konnte. Anscheinend hatte er den ersten Schock, seinen Vater nach so langer Zeit wiederzusehen zum Teil überwunden. Zögernd ging er einen Schritt auf ihn zu. "Paps...D...Dad, das ist..." Ein riesiger Kloß formte sich in Peters Kehle, er konnte nicht mehr weiter reden. Kim schien zu bemerken, dass etwas Besonderes im Gange war, denn sie trat zur Seite und ließ die beiden Männer allein. Caine trat ebenfalls einen Schritt auf Peter zu und hob den Arm. In altbekannter Geste legte er die Hand auf Peters Wange. Der junge Shaolin schluckte trocken und schloss die Augen. Die leichte und so sehr herbei gesehnte Geste setzte eine Kettenreaktion in Gang. Ganz ohne sein Zutun schmiegte sich Peter enger gegen die beschützende Hand. Ihm war, als würde ein riesiger Eisbrecher durch seine Adern rasen und mit Urgewalt all das Eis zerschlagen, das sich in seinem Inneren angesammelt hatte. Die Kälte wandelte sich um in wohlige Wärme und dem lang vermissten Gefühl der Geborgenheit, Akzeptanz und Zuversicht. Ein leiser Laut entrang sich Peters Kehle, es klang halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Freudenschrei. Dann schlang er beide Arme um seinen lang vermissten Vater und zog ihn eng an sich. "Gott, wie hab ich dich vermisst, Dad." Caine erwiderte die Geste und umarmte seinen Sohn ebenfalls mit aller Kraft, so als wolle er ihn nie wieder los lassen. "Ich dich auch, mein Sohn." Wie lange er im stummen Zwiegespräch und überschwänglicher Gefühle vereint mit dem Vater da stand, konnte Peter beim besten Willen nicht sagen. Erst ein leises Räuspern brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er blickte zur Seite und schaute direkt in Kims Gesicht mit den klaren, von Tränen schimmernden Augen. Er konnte sich gut vorstellen, was in ihr in diesem Moment vorging. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie sie damals von ihrem eigenen Vater so im Arm gehalten wurde. Spontan ließ Peter seinen Vater los und schloss stattdessen Kim in seine Arme. Er hielt sie ein paar Sekunden fest, bis er merkte, dass auch sie sich wieder gefangen hatte und drehte sie dann in Caines Richtung, einen Arm beschützend um ihre Schultern gelegt. "Es wird Zeit, dass ich die Vorstellung nachhole. Kim, darf ich dir meinen Vater vorstellen? Kwai Chang Caine. Dad, das hier ist Kimberly Ann. Kurzform Kim." Kim lächelte ihn an und ergriff zum zweiten Mal an diesem Tag seine Hand. "Sie sind der Shaolin, von dem mir Simon immer erzählt hat." "Simon?" Caine sah fragend von Kim zu seinem Sohn. "Simon Storm. Er war vor fast 18 Jahren dein Schüler, erinnerst du dich?", antwortete Peter, amüsiert, dass er wenigstens einmal mehr wusste, als sein Vater. "Moment", schaltete sich Kim dazwischen. Sie ließ Caines Hand los, griff in ihre Jeans und zog ein kleines Mäppchen hervor. Sie klappte es auf, blätterte kurz darin und hielt es Caine hin. "Das ist Simon." Der Shambhala Meister nahm das Mäppchen entgegen und besah sich das kleine Foto. Er schwieg für einen Moment, dann schien er sich zu erinnern. "Er...war ein sehr gelehriger Schüler." Caine gab ihr mit einem Lächeln das kleine Mäppchen zurück und Kim schob es wieder zurück in ihre Jeans. Peter beobachtete den Austausch von Freundlichkeiten aufmerksam. Irgendwie fühlte er sich, als würde er zwischen zwei Stühlen sitzen. Einerseits freute er sich, dass Kim und Caine offensichtlich gut miteinander zurecht kamen, andererseits wollte er seinen Vater jetzt einfach nur für eine Weile ganz alleine für sich haben, wohl wissend, es war nicht möglich. Er konnte sich nicht helfen, aber erneut überkam ihn heftige Nervosität. Nun, da das Eis zwischen ihm und seinem Vater gebrochen war, brannten ihm viele Fragen auf seiner Seele, deren Antworten er unbedingt wissen wollte. Er konnte und wollte den Themenwechsel einfach nicht mehr länger hinaus schieben. "Wie ist es dir auf deiner Reise ergangen, hast du Mom gefunden?", sprudelte es aus ihm heraus. Caine nahm seinen Beutel ab. "Es tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Sohn. Die Frau auf dem Foto, sie war nicht deine Mutter." Für einen kurzen Moment verspürte Peter tiefe Traurigkeit. Es kam ihm vor, als hätte man ihm soeben eine heftige Ohrfeige verabreicht. Alle anderen Fragen Caines Reise betreffend, erstarben ihm auf der Zunge. Er spürte, er würde zuerst einmal Zeit brauchen, um den kurzen Satz zu verarbeiten, bevor er seinen Vater mit weiteren Fragen löchern konnte. Nur gut, dass Kim bei ihm war, so konnte er sich ganz auf ihre Belange konzentrieren und sie vorschieben als Grund das Thema zu wechseln. Wie schon so oft, überraschte Caine seinen Sohn vollkommen, denn er wechselte von sich aus das Thema. Der ältere Priester setzte sich auf einen Stuhl und erkundigte sich. "Was tut ihr hier draußen? Warum versteckt ihr euch hier?" Mit kurzen Worten weihte Peter seinen Vater ein. "Ich wollte eigentlich zu Lo Si gehen, damit er Kim helfen kann, aber jetzt bist du wieder da und ich dachte...", schloss er die Erzählung mitten im Satz. Caine lächelte und Kim bemerkte, dass es ein recht schüchternes Lächeln war. Sie wusste nicht woher es kam, aber sie fühlte sich mit diesem Mann seltsam verbunden. Seine ruhige Art zog sie ganz in ihren Bann. Oder lag es daran, dass sie seinen Sohn so sehr liebte? "Du willst, dass ich ihr helfe.", vervollständigte Caine den Satz seines Sohnes. Kim ging einige Schritte auf ihn zu und blickte ihn hoffnungsvoll an. Seltsam, wie viel Vertrauen sie jetzt schon in diesen Mann setzte, wo sie ihn doch erst wenige Minuten kannte. Trotz allem oder gerade deswegen fiel ihr die Bitte nicht schwer. "Bitte, Mr. Caine, sie müssen mir helfen. Ich muss wissen, was damals geschah." Caine streckte seine Hand aus und strich ihr sanft über die Wange. Die Wärme und das Verständnis in seinen Augen, taten Kim sichtlich gut. Sie bemerkte, wie sie neue Kraft bekam, nur durch diesen Blick. "Bring sie morgen zu mir. Ich werde ihr helfen.", wandte sich Caine Peter zu und nahm die Hand von Kims Wange. Kim strahlte, errötete sanft und fiel dem Shambhala Meister spontan um den Hals. "Danke." Dann ließ sie Caine genauso schnell wieder los, wie sie ihn umarmt hatte und sah ihn verlegen an. Caine nickte ihr wohlwollend zu. Dann erhob er sich bedächtig, griff nach seinem Bündel, warf es ich in einer geschmeidigen Bewegung über die Schulter und ging zur Tür. "Wohin gehst du?", fragte Peter, der nicht verbergen konnte, dass ihm ein dicker Kloß im Hals hing. Angst schwang in seiner Stimme mit. Caine sah seinem Sohn fest in die Augen. Kim hatte das Gefühl, als wisse der ältere Mann genau, was in seinem Sohn vorging, denn er antwortete mit einer beinahe hypnotisch beruhigenden Stimme. "Ich gehe nach Hause, mein Sohn." Peter atmete sichtlich erleichtert auf und nahm seinen Vater noch einmal in die Arme. "Ich liebe dich, Paps." "Ich liebe dich auch, mein Sohn.", entgegnete Caine und löste sich von Peter. Er tätschelte seinem Sohn noch einmal liebevoll die Wange, drückte kurz Kims Hand und verließ die Hütte dann still und leise.
|
Teil1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 zurück zum Autoren Index zurück zum Story Index
|