Teil 37
Autor: Ratzenlady
 

Ryan hörte zu, seit dieser George Paul Blaisdell zu sich gerufen hatte. Unbemerkt hatte er sich seitlich an das Fenster schleichen können, um den Saugnapf mit dem Mikrofon anzubringen, dann hatte er sich mit seinem Gewehr samt Schalldämpfer auf den Weg zu einer sicheren Position gemacht, die er schon vorher ausgeguckt hatte.

Es war allerhöchste Zeit, dass er eingriff, denn der Stöpsel in seinem Ohr, beziehungsweise das, was er dadurch mitverfolgte, war äußerst beunruhigend. Er kannte solche Situationen, hatte schon mehr so kranke Typen getroffen, aber das hier war schon speziell, dieser George war wirklich ziemlich durchgeknallt.

Er brachte sich in Position und legte an, durch das Fernrohr verschaffte er sich jetzt einen Überblick über die Anordnung der Menschen. Es schockte sogar ihn, als er jetzt direkt sah, wozu der Kerl Annie zwang, wie Cat zusammengekauert hockte, den Kopf gewaltsam hochgerissen, er sah wie Peter sich mühsam wieder hoch kämpfte und dann mit Kermit zusammen dastand und nichts tun konnte. Das war grausamste Psycho-Folter!

Ihm blieben nur wenige Sekunden, um sich zu entscheiden, was er tun wollte. Zehn Mann auf einen Streich ausschalten, das war fast unmöglich, da reichte auch die Schrecksekunde nicht, die sie voraussichtlich nach dem ersten Schuss lähmen würde. Er schwenkte das Gewehr rum zu dem kleinen Gartenschuppen an der Terrasse und fand dort einen Blecheimer.

"Ich locke sie raus, behalt die Umgebung im Auge", sagte er in sein Headset und bekam umgehend die Bestätigung von Haley, dass sie verstanden hatte. Dann zielte er auf den Eimer und schoss darauf, richtete das Gewehr anschließend wieder auf die Fensterfront, um die Reaktionen zu beobachten.

George fuhr herum und wies die Leute an, gefälligst nachzusehen, was dort gerappelt hatte. Zu Ryans Freude kamen gleich vier Mann durch die Schiebetür und gingen zum Schuppen, ihre Uzis angelegt. Die waren erstmal beschäftigt. Im Haus waren jetzt noch George, schon wieder bereit dazu, Paul zu erschießen, die beiden neben Peter und Kermit, ein Söldner am Durchgang zum Esszimmer, einer hinter Cat und noch Carter, der relativ unbeteiligt und zurückhaltend an der Wand stand, als gehörte er gar nicht dazu.

Wenn er Glück hatte, kapierten Kermit und Peter schnell was los war und konnten die angesprochene Schrecksekunde nutzen, um ihre beiden Gegner zu überwältigen. Wenn nicht, hatte er ein Problem. Aber er hatte keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken.

Er nahm jetzt George ins Visier, der grade ankündigte, dass sie ihrem geliebten Paul Lebe Wohl sagen sollten. Annie stand dummerweise in seiner Schussbahn, denn er wollte George nur die Waffe abnehmen und Peter seine Möglichkeit zur persönlichen Rache geben; in diesem Fall war es nicht seine Entscheidung, ob dieser Scheißkerl leben oder sterben durfte.

Er richtete sein Fadenkreuz auf das Schultergelenk, der Rest des Armes war durch Annie verdeckt, und drückte ab. Die Waffe flog durch den Raum, der Geiselnehmer taumelte zurück, Annie brach auf dem Boden zusammen. Ryan richtete sich blitzschnell neu aus und traf die restlichen drei Männer nacheinander zielsicher in ihren verdatterten Gesichtern.

Nur im Augenwinkel sah er, dass seine beiden Freunde tatsächlich verstanden, was passierte, und jetzt seitlich ausschlugen, um ihre Gegner zu entwaffnen und anschließend kampfunfähig zu machen. Er selbst kümmerte sich um die vier, die jetzt wieder über die Terrasse zur Tür rannten. Keiner von ihnen schaffte es lebend in den Wohnraum zurück.

"Situation geklärt, keine Verluste. Over and out", gab der Scharfschütze seiner Frau in alter Manier bekannt, dass er erfolgreich gewesen und niemand auf ihrer Seite zu Tode gekommen war. Die Leichen der Söldner waren dabei egal. Haley atmete erleichtert auf, bestätigte und kappte dann die Verbindung.

Während Ryan sich von seinem Baum schwang, auf dem er gut getarnt im Laub gehockt hatte, stürzte sich Peter wutentbrannt und voller Hass auf George, der immer noch taumelnd und völlig verwirrt mitten im Wohnraum stand. Er bemerkte nicht mal, dass Cat mittlerweile den Kopf gehoben hatte und entsetzt um sich schaute. Kermit ging sofort zu ihr und schloss sie in seine Arme, um sie zu trösten. Das war das Sinnvollste, was er jetzt noch tun konnte, nachdem alle Gangster außer Gefecht waren.

Auch Paul fuhr herum und hielt Annie so fest er konnte, um ihren bebenden Körper langsam wieder zu beruhigen. Aber beide Männer beobachteten scharf, wie der Shaolin sich jetzt auf ihren Peiniger warf und ihn niederkämpfte.

Er war nicht besonders schwer, ihn zu Boden zu kriegen, schließlich schrie er schmerzhaft wegen seiner Schulterwunde, die Kugel hatte ihm sein Gelenk zerschmettert. Und Peter war so rasend, dass er den Schmerz überhaupt nicht realisierte, der sich jetzt in seiner Seite ausbreitete und ihm unter normalen Umständen den Atem rauben würde. Aber diesen Schmerz gab es nicht, er war nicht existent in den Gedanken des jungen Mannes, nichts war existent, außer dem roten Feuer des Hasses in seinem Inneren.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er einen vor Schmerz und Zorn kreischenden George bäuchlings unter sich gebracht hatte. Hart packte er sein Kinn und seinen Hinterkopf und drehte sie bis an die Schmerzgrenze. Ein kleiner Ruck, und es wäre vorbei. Er verharrte so, sein Blick war ein eiskaltes Feuer, sein Kiefer presste sich zusammen, seine Brust hob und senkte sich schwer.

Ryan trat jetzt durch die Reste der Glastür, das lange Gewehr in der Hand, wurde aber von dem jungen Mann gar nicht bemerkt. Wortlos blieb er stehen und betrachtete die Situation mit äußerlich ruhigem Gesicht.

Kermit beobachtete Peter, der im Begriff war, einen schlimmen Fehler zu begehen. Aber dennoch schwieg er, genauso wie Paul; aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht benennen konnte, sagten sie nichts, um ihn davon abzuhalten, George das Genick zu brechen. Aber wahrscheinlich hätte es auch keine Worte gegeben, um Einfluss darauf zu nehmen. Diese Entscheidung musste Peter ganz allein treffen, so wie Kermit sie damals bei Larson hatte treffen müssen.

Es fühlte sich an, als würden Stunden vergehen, George wimmerte nur noch, Peters Gesicht hatte sich aber nicht verändert. Ein tosender Orkan wütete hinter seinen Pupillen, seine Finger verkrallten sich am Kopf seines Gegners, oder inzwischen eher Opfers, sein Blick wirkte, als würde er es jeden Moment tun.

"Peter?" Es war Cat, die sich ein wenig von Kermit gelöst hatte und jetzt zu ihrem Mann rüber sah. Ihre leise Stimme sorgte dafür, dass Peter den Rest der Welt neben George wieder einblendete. Langsam drehte er den Kopf zu ihr und schaute in ihre verheulten, aber liebenden Augen, sah, wie sie langsam den Kopf schüttelte und ihn darum bat, es nicht zu tun.

Kermit hatte sich getäuscht, es gab jemanden, der die Worte aussprechen konnte, die ihn davon abhielten. Und welche Worte war sogar völlig egal, sie mussten nur aus Cats Mund kommen. Ein Blick in ihre Augen, und Peter vergaß seinen Hass und besann sich wieder das Wichtigste in seinem Leben: seine geliebte Frau.

Er stieß Georges Kopf angewidert von sich und stand auf, sofort wich Kermit und ließ Peter die Aufgabe übernehmen, Cat einfach nur in den Arm zu nehmen und festzuhalten. Der Ex-Söldner nahm jetzt kurz seine Gläser ab, rieb sich die Augen und sah Ryan jetzt offen an. Lange blieb er regungslos, dann nickte er von ganzen Herzen dankbar und aufrichtig. Der blonde Cop erwiderte die Geste ernst und blickte dann nach unten, wo George zu ihm auf blickte, als würde er einen Geist sehen.

Allerdings ließ sich George nicht allzu sehr von seinem Schreck ablenken und wollte zu einer am Boden liegenden Uzi robben, aber Ryan stellte seinen Stiefel umgehend fest und unbarmherzig auf die verletzte Schulter, trat richtig hart drauf, fixierte den Kerl somit am Boden und ließ ihn laut aufschreien. Aber das störte keinen der Anwesenden.

Es war endlich vorbei.

* * * * * *

Peter stand auf dem grünen Gras und starrte über den unruhigen See, der sehr deutlich sein Innenleben widerspiegelte. Der Himmel über ihm war wieder in einem friedlichen Blau gefärbt, die Lösung, die ihn im wohl schlimmsten Moment seines Lebens gekommen war, musste also stimmen. Und im Nachhinein war es so einfach.

Zwei Wochen hatte er nach dem Vorfall in seinem Elternhaus gebraucht, um jetzt endlich wieder hier her zu kommen. Vielleicht, weil er wusste, dass hier etwas auf ihn wartete, das er noch bewältigen musste, dass es nicht einfach nur der Ruhe dienen würde. Vielleicht auch, weil er einfach noch zu durcheinander gewesen war, um tief genug meditieren zu können.

Noch immer quälte ihn die Verantwortlichkeit für alles, was passiert war. Es fiel ihm schwer, ihnen in die Augen zu sehen, er hatte Angst, dass sie ihm die Schuld geben konnten, denn das Recht dazu hatten sie seiner Meinung nach. Und auch wenn sie immer wieder versuchten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, ein Rest Zweifel blieb dennoch.

Cat hatte sich in den ersten Tagen wieder mehr zurückgezogen, was ihm fast das Herz gebrochen hatte, aber dann war sie zurückgekommen, zaghaft und unsicher, aber immerhin sie war gekommen. Auch wenn man den Schmerz in ihrem Blick erkennen konnte, den es ihr bereitete, nicht direkt am Leben und der Gesellschaft teilnehmen zu können.

Ryan hatte es sogar geschafft, sie davon zu überzeugen, sich von ihm Gebärdensprache beibringen zu lassen. Nicht, wie er ausdrücklich betonte, um sie auf ein Leben in dauerhafter Gehörlosigkeit vorzubereiten, sondern um die Zeit, die es dauerte, bis sie wieder hören konnte, so angenehm und leicht wie möglich zu machen.

Und Peter war ihm unendlich dankbar dafür. Er hatte es allein mit der Rettungsaktion geschafft, sich einen festen Platz in ihrer aller Herzen zu sichern, und mittlerweile war auch dem Shaolin jetzt deutlich erklärt, was Ryan tatsächlich früher gemacht hatte. Sie waren alle froh, dass er da war, dass er sie gerettet hatte, dass er Cat einen Lichtblick geben konnte.

Seit vier Tagen hatten sie täglichen Unterricht. Mal lief es gut, mal kam die Verzweiflung zu der jungen Frau zurück und ließ sie aus der Haut fahren und um sich schreien. Aber immer wieder schaffte es der frühere FBI-Mann, sie zu überzeugen, dass sie weitermachen sollten.

Noch war sie nicht so gut, dass sie sich wirklich mit Ryan (oder auch Haley) unterhalten konnte, aber es wurde besser. Einfache Sätze verstand sie, wenn er seine Hände langsam bewegte und die Gesten wiederholte. Und es kam näher an ein Gespräch heran, als geschriebene Worte, was Cat ein besseres Gefühl in der aktuellen Situation gab. Wenn sie noch ein wenig weiter lernte, dann würden sie sich richtig unterhalten können; und Ryan auch für jeden anderen simultan übersetzen, was echten Gesprächen dann wieder recht nah kommen würde.

Jody war nach wenigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und arbeitete auch schon wieder. Inzwischen war von ihrem Unfall nichts mehr übrig, außer der Überlegung, dass sie ein neues Auto brauchte; was aber in Anbetracht der Umstände der letzten Zeit fast schon als lächerliche Lappalie wirkte.

Ganz langsam kehrte also die Normalität in ihre Leben zurück. Sie hatten die Mitteilung bekommen, dass ihre Wohnung tatsächlich zu retten sein würde, die Bauarbeiten hatten mittlerweile schon begonnen. Und George saß in einem Hochsicherheitstrakt, aus dem er nie wieder heraus kommen würde.

Es hatte sich zum Guten gewendet.

Gedankenverloren senkte Peter jetzt den Kopf und blickte auf die Wasseroberfläche vor seinen Füßen, in der sich sonst spiegelte und sich selbst ins Gesicht sehen konnte. Aber auch hier im Auslauf war es zu aufgewühlt, um ihm sein Spiegelbild zu zeigen. Dann fühlte er die Präsenz seines Vaters hinter sich.

"Das ist es, nicht wahr?", fragte er leise, ohne aufzublicken.

"Das ist was?", meinte Caine ruhig. Peter lächelte sanft, es war so typisch für seinen Vater, eine Frage nicht einfach zu beantworten, obwohl er genau wusste, worum es ging.

"Ich habe die beiden Fragen gelöst, aber eines bleibt noch. Und das ist kein Rätsel. Ich bin es. Ich habe mich verloren, nicht nur meine Sinne, sondern auch mich selbst", flüsterte Peter und starrte noch immer auf das unruhige Wasser unter ihm, in dem er sich nicht sehen konnte.

"Nicht verloren, Peter. Vielleicht bist du dir selbst aus dem Blickfeld geraten, aber verloren hast du dich nicht."

"Aber ich hätte es fast", erkannte er, als er an seine Reaktion vor zwei Wochen dachte. Wenn Cat in dieser einen Sekunde nicht etwas gesagt hätte, dann hätte er George in der nächsten das Genick gebrochen.

"Was fast geschieht, ist am Ende doch nicht geschehen. Also gräme dich nicht damit, mein Sohn. Du hast richtig reagiert. Du wirst dich wiederfinden. Und deine Sinne auch", beruhigte Caine.

Peter war sich da noch nicht so sicher. "Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für diese Prüfung. Ich habe einfach zu viele andere und schreckliche Dinge im Kopf, um die Ruhe dafür zu finden."

"Nun, vielleicht war es auch der beste Zeitpunkt dafür", sagte sein Vater nachdenklich.

Peter verzog die Brauen, schaute aber noch immer in die dünne und aufgewühlte Wasserschicht am Ufer.

"Du sagtest mir, es ginge um Weisheit. Die Weisheit, dass ich kein Übermensch bin? Dass ich, mit und ohne Shaolin-Sensibilität, nicht immer der Retter in der Not sein kann?", fragte Peter unsicher.

Caines Lippen zeichneten ein leises Lächeln, aber das konnte er nicht sehen.

"Das hat nichts mit Weisheit zu tun, mein Sohn. Das ist eine Tatsache."

"Aber die Weisheit liegt darin, die Tatsachen als solche akzeptieren zu lernen", murmelte er umgehend, nicht mal wissend, ob er diesen Satz als weisen Spruch schon mal irgendwo in seiner Kindheit im Tempel gehört oder sich grade eben ausgedacht hatte.

Caine machte jetzt einen Schritt vorwärts und legte ihm beide Hände von hinten auf die Schultern. "Jetzt hast du es, mein Sohn", meinte er erfreut und lachte sein typisches Lachen. Dann verschwand er einfach in der zarten warmen Brise, die jetzt aufkam.

Peter lächelte auch und schloss die Augen, um das Gefühl von Wärme, das sich nun in ihm ausbreitete, zu genießen und das Gelernte in sich aufzunehmen.

Als er die Lider wieder öffnete, war die See ruhig und strahlte unter dem blauen Himmel wieder die Ruhe und Freundlichkeit aus, die er so lange in seinem Leben vermisst hatte. Ein Glücksgefühl wie damals, als er nach Sloanville zurückgekehrt war, breitete sich in seinem Herzen aus. Auch dies war eine Ankunft, und zwar die bei sich selbst.

"Danke Paps", flüsterte er mit einem Lächeln in den Wind. Und er war sich sicher, eine Antwort darauf gehört zu haben.

Wie einfach waren doch Rätsel, wenn man erst die Lösung kannte. Dann ergab sich alles ganz logisch, dann war es so leicht. Er hatte sich nur so akzeptieren müssen, wie er war: nicht perfekt, nicht allzeit bereit. Seine Kräfte waren Geschenke einer höheren Macht, die ihm nur geliehen wurden und nicht seinem Befehl unterlagen. Sicherlich würden Zweifel bleiben, aber das war in Ordnung. Peter Caine ohne leise Selbstzweifel wäre schließlich nicht mehr er selbst.

Er lachte plötzlich, einfach aus dem Wunsch dazu heraus. Herzlich und laut hallte sein Lachen über den See und die Wiese und stieg bis in den Himmel hinauf.

Und als er aus der Meditation erwachte, lachte er immer noch.


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